#Sachbuch

Franz Kafkas Gesten

Isolde Schiffermüller

// Rezension von Hermann Schlösser

Wie so viele interessante literaturwissenschaftliche Arbeiten, verdankt sich auch die Studie Isolde Schiffermüllers einer Anregung Walter Benjamins. Der nämlich verstand schon 1934 das Werk Kafkas als einen „Kodex von Gesten“, in dem der Inhalt des Gesagten oft weniger wichtig sei als etwa die Frage, ob eine Äußerung mit gesenktem oder mit erhobenem Kopf getan werde.

Benjamin wollte mit dieser Lesart eine Brücke zwischen Kafkas Prosa und Brechts „epischem Theater“ schlagen, aber sein Freund Theodor W. Adorno meldete Zweifel an der Kompatibilität dieser beiden Autoren an. Dabei war auch Adorno vom gestischen Charakter der Kafkaschen Texte überzeugt. Nur dachte er weniger an Brecht als Vergleichsgröße, sondern eher an den Stummfilm und im Besonderen an Charlie Chaplin. Benjamin griff diesen Gedanken seines Briefpartners auf und formulierte: „Einen wirklichen Schlüssel zur Deutung Kafkas hält Chaplin in Händen.“ Von diesem Schlüssel haben spätere Kafka-Interpreten leider nur selten Gebrauch gemacht. Ein Vergleich zwischen Kafka und Slapstick wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, denn sie interessierten sich vor allem für die philosophischen oder theologischen Sinngehalte, die sich in dieser Prosa finden (bzw. in sie hineinlesen) lassen. Isolde Schiffermüller greift nun auf die Intuitionen der frühesten Kafka-Leser zurück und rät dabei ausdrücklich zur „Vorsicht gegenüber hermeneutischen Spekulationen und theoretischen Vereinnahmungen des Werks“. Ihr geht es nicht darum, herauszufinden, was uns der Autor mit seinen verrätselten Texten eigentlich habe sagen wollen. Sie folgt stattdessen der Bewegungslogik von Kafkas Gesamtwerk, und das heißt eben: Sie untersucht die „Gesten“, die in dieser Prosa immer wieder inszeniert werden. Unter diesem Aspekt betrachtet, gewinnt etwa die Betrachtung „Das Unglück des Junggesellen“ ihre Besonderheit durch ihren Schlusssatz. Nachdem Kafka die Einsamkeit des alternden Junggesellen beschrieben hat, fasst er seinen Text in einem Absatz zusammen, der eine Geste in den Blickpunkt rückt: „So wird es sein, nur, daß man auch in Wirklichkeit heute und später selbst dastehen wird, mit einem Körper und einem wirklichen Kopf, also auch einer Stirn, um mit der Hand an sie zu schlagen.“ Schiffermüller kommentiert diesen Absatz mit den Worten: „Dramatisch führt dann die Geste vor Augen, dass Kopf und Stirn nicht nur Organe des Denkens sind, sondern auch Körperteile, die von der eigenen Hand berührt werden können.“

Die Hand spielt auch im Roman „Der Process“ eine wichtige Rolle: Schiffermüller zeigt detailliert, wie Josef K. mehrmals versucht, seine wenig haltbaren Verabredungen mit dem Gericht durch Handschlag zu bekräftigen, wobei aber seine Hand immer ins Leere greift, weil sich ihr keine andere entgegenstreckt. Derartige, nur scheinbar nebensächliche Vorgänge schildert Kafka mit großer literarischer Sorgfalt, und Isolde Schiffermüller ist ihnen mit nicht geringerer philologischer Sorgfalt auf der Spur.

Als ein satirischer Höhepunkt in Kafkas Werk wird im Schlusskapitel des Buches die Erzählung vom menschgewordenen Affen Rotpeter vorgestellt. Der Titel wird im Fließtext fälschlich zum „Bericht an eine Akademie“, während er in der Dachzeile korrekt zitiert wird: „Bericht für eine Akademie.“ Dieser kleinen Unaufmerksamkeit ungeachtet, charakterisiert Schiffermüller diesen dichterischen Beitrag zur Evolutionstheorie aber sehr einleuchtend als Karikatur des Menschsseins. Was Homo Sapiens durch jahrtausendelange Bildung und Erziehung mühsam erlernen musste, eignet sich der anpassungsfähige Affe in Windeseile durch Imitation an. Dadurch stellt er jedoch die Würde des Menschseins radikal in Frage – und das in einer Zeit, in der die Grundlagen des abendländischen Humanismus ohnehin schon fragwürdig geworden sind. Oder, in Schiffermüllers Worten: „Während sich der Mensch immer unähnlicher wird, tritt der selbstdressierte Affe als Virtuose der Nachahmung auf die Bühne, um die einstudierten Gesten und Haltungen der Menschen vorzuführen.“

Allerdings untersucht die Verfasserin nicht nur die vielfältig eindrucksvolle Gestik der Kunstfiguren, die in Kafkas Werk auftreten. Sie entwirft im Verlauf ihrer Untersuchungen eine erkenntnistheoretische Skizze von Kafkas Denken als einem „gestischen“, d.h. sie versteht die Aufmerksamkeit für den Körper und seine Ausdrucksformen als bedeutsames Element der Kafkaschen Ästhetik. Anhand ausgewählter Textbeispiele zeichnet sie den „szenischen Charakter“ der Kafkaschen Prosa nach, und überdies weist sie darauf hin, dass Kafka – in seinen literarischen Texten wie in seinen Tagebüchern und Briefen – die Geste zu einer zentralen Kategorie seines Weltverständnisses gemacht hat.

Das zeigt sich unter anderem auch an den prägnanten kleinen Zeichnungen, mit denen Kafka gerne die Ränder seiner Manuskripte zierte. Max Brod und andere Kafkologen haben diese Bildchen nur als liebenswürdige Ego-Dokumente gelten lassen, Schiffermüller hingegen versteht sie als wesentlichen Teil von Kafkas Denken, das bis in die Details hinein durch optische Sinneswahrnehmungen geprägt ist. Selbst musikalische Eindrücke übersetzt sich dieser Autor in Bilder: In seinen ausführlichen, mikrologisch genauen Beobachtungen zum jiddischen Theater schildert Kafka den rituellen Gesang der Schauspieler, aber seine Beschreibung hält sich bei der Musik nicht lange auf. Stattdessen heißt es: „Die Melodien sind lang, der Körper vertraut sich ihnen gerne an. Infolge ihrer gerade verlaufenden Länge wird ihnen am besten durch das Wiegen der Hüften, durch ausgebreitete, in ruhigem Atem gehobene und gesenkte Arme, durch Annäherung der Handflächen an die Schläfen und sorgfältige Vermeidung der Berührung entsprochen.“ Hier ist also unverkennbar, dass Kafka die Musik eher sieht als hört. Schiffermüller interessiert sich für diesen Aspekt der Sache allerdings weniger; vollkommen überzeugend spürt sie jedoch in Kafkas Faszination für das jiddische Theater das Bestreben, mit Hilfe theatralischer Gesten die abgebrochene Verbindung zur jüdischen Tradition zumindest für die Dauer einer Theateraufführung wieder herzustellen.

Franz Kafka war nicht der einzige Schriftsteller seiner Zeit, der dem Gestischen eine hohe Bedeutung für das menschliche Leben beigemessen hat. Wie Schiffermüller darlegt, haben sich auch Rilke, Hofmannsthal und andere mit der Schönheit und dem Wert der wortlosen Geste beschäftigt. Sie haben ihr dabei meist jenen Wahrheitsgehalt zugetraut, der von den Sprechakten nicht mehr erwartet wurde. In einer Zeit, in der man mit Hofmannsthals Lord Chandos die krisenhafte Entwertung einer jeden sprachlichen Äußerung empfand, vertraute man auf Bewegungsformen wie den Tanz als Sinnstifter. Kafka allerdings neigte nicht zur Feier der reinen Körperlichkeit. Wie Schiffermüller zeigt, führte er die Geste ebenso ad absurdum wie die Inhalte der Rede. Sein berühmter Text „Eine kaiserliche Botschaft“ gilt der Verfasserin geradezu als „Paradebeispiel für die Negativität der Kafkaschen Parabel“, „denn die Botschaft des sterbenden Kaisers wird ihren Adressaten nie erreichen, sie reduziert sich auf den bloßen Gestus der Vermittlung.“

Über die Fülle solcher Einzelheiten hinaus legt Isolde Schiffermüller jedoch Wert auf die Feststellung, dass Kafka die Geste niemals im Gegensatz zur Sprache denkt. Gerade seine Texte sind ja bis in kleinste Details hinein gestisch organisiert. Vor allem das weist Isolde Schiffermüller anschaulich nach. Aber weil das so ist, können die Gesten für Kafka auch keine Reservate der unverstellten Wahrheit sein. Sie sind geradeso gefährdet wie die Sprache, deren Bestandteil sie sind. Oder, wie es in Isolde Schiffermüllers lesenswerter Studie heißt: „ . . . für ihn (Kafka, Anm.) ist die Geste alles andere als der Zufluchtsort einer vermeintlichen Authentizität in der allgemeinen Krise der Moderne, sie bezeugt vielmehr ihrerseits eine radikale Entfremdung, die auch den körperlichen Menschen erfasst hat.“

Isolde Schiffermüller Franz Kafkas Gesten
Studien zur Entstellung der menschlichen Sprache.
Tübingen: Francke Verlag, 2011.
205 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 978-3-7720-8392-1

Rezension vom 16.07.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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