#Sachbuch

Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart

Bernhard Fetz, Michael Hansel, Hannes Schweiger (Hg.)

// Rezension von Karin S. Wozonig

Das erklärte Ziel der Herausgeber dieses Bandes aus der Reihe „Profile“ ist es, sich dem Klassiker Grillparzer ohne falsche Verehrung anzunähern. Vorzuführen, dass man Grillparzer heute noch auf „lustvolle Weise“ lesen kann, das gelinge einigen der Beiträge im Sammelband, meinen die Herausgeber (S. 5), und sie haben recht. Das Gedicht „Da grübazaaa“ von Thomas Arzt, einer der Texte in der über den Band verstreuten Kategorie „Mein Grillparzer“, weist in den unverkrampften Zugang zum Klassiker ein. Neben diesem spielerischen Element finden sich in dem Sammelband aber auch ernsthafte Analysen. Nach der kritischen Aktualisierung des Klassikers durch Daniela Strigl findet sich ein ambitionierter Versuch von Hans Höller, Grillparzers politische Relevanz zu belegen.

Durch Grillparzers administratives Personal, z.B. Wolfen Rumpf („Ein Bruderzwist in Habsburg“) und Bancbanus („Ein treuer Diener seines Herrn“), in denen der Dichter die Trennung zwischen Expertentum und politischer Repräsentation auf die Bühne bringt, fühlt sich der Jurist Raoul Kneucker „angeregt, ja geradezu herausgefordert“ (S. 113). Er erinnert in seinem Beitrag daran, dass sich Grillparzer mit Verwaltung und Bürokratie auskannte und kommt zum Schluss, die beispielhaften Szenen könnten auch als „Sektionsleitersitzung, ergänzt durch einige Abteilungsleiter“ inszeniert werden: „Die Dramen stellen nämlich interne Sitzungen mit Tagesordnungen nach“ (S. 114).

Mit der politischen Seite Grillparzers unter aktuellem Blickwinkel befasst sich Robert Pichl, der Parallelen zwischen den Partikularinteressen von Nationalstaaten sieht, die die EU auseinandertreiben und dem habsburgischen Vielvölkerstaat, über den Grillparzer in seinen Tagebüchern und Epigrammen nachdenkt und in historischen Dramen verklausuliert befindet. Weitere Beiträge von Evelyn Deutsch-Schreiner, Deborah Holmes und Gerhard Ruiss beschäftigen sich mit der Rolle die der Dramaturg Joseph Schreyvogel für Grillparzer spielte, mit der Bedeutung der Musiknoten in „Der arme Spielmann“ und mit literarischen Zusammenschlüssen und Interessensverbänden einst und heute.

Nicole Streitler-Kastberger widmet sich der Geschlechterdifferenz oder auch dem Plural davon. Um diese und um „Liebeshändel“ drehe sich Grillparzers Dramatik hauptsächlich, meint Streitler-Kastberger und führt das an „Sappho“, „Medea“ und „Des Meeres und der Liebe Wellen“ vor, denn in ihnen habe Grillparzer „gewissermaßen die drei Stadien einer Liebesbeziehung beschrieben: die junge Liebe (Liebe als Verliebtheit), die gestandene Ehe (Liebe als Alltag) und die aufkeimende Liebe (Liebe als Sehnsucht).“ (S. 60) Dabei wirken Sappho und Hero „geradezu zwillingshaft“ (S. 43) als Frauen, die in höhere Sphären vorgedrungen, an der Liebe zu allzu erdgebundenen Männern scheitern. Dass „Sappho“ ein „Drama des weiblichen Konflikts zwischen Kind und Karriere“ (S. 48) ist, kann man zwar nur behaupten, indem man Grillparzers religiös konnotierte Kunst, zu deren Ausübung Sappho durch göttliche Berufung befähigt ist, in den Brotberuf der Schriftstellerei uminterpretiert. Dass eine solche Umdeutung nicht völlig abwegig klingt, ist aber wohl ein Zeichen dafür, dass Grillparzer ein echter Klassiker ist, dem auch forcierte Aktualisierung nicht schadet. Streitler-Kastberger bietet aber noch eine andere Lesart an: Vielleicht ist Grillparzer selbst Sappho oder Hero und opfert die „bürgerliche Lebensform“ dem „Dienst an der Kunst“ (S. 51). Damit würde der Dichter im Leben wie in seiner Kunst die „scheinbar so festgefügten Kategorien von Geschlechtsidentität und Geschlechterdifferenz ins Wanken“ bringen (S. 60), ein weiterer Aspekt seiner Modernität, die ihn gemäß dem Untertitel des Buchs zum Klassiker der Gegenwart macht.

Ruth Klüger konstatiert in ihrer zuerst 1971 erschienen Analyse von „Weh dem, der lügt!“, die „ästhetische Absicht“ der Komödie sei „größtenteils die eines österreichischen Puppenspiels zu Goethe’schen Themen“ (S. 77). In einer Aktualisierung von 2016 ergänzt Klüger ihre Analyse um den Aspekt der Romantik, den das Stück aufweise. Die sei aber nicht nur für die Traumwelt, sondern auch für die Ablehnung der Vernunft, für „Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und eine wutschnaubende Kriegshysterie“ (S. 78) verantwortlich, was hier quasi durch comic relief erträglich gemacht wird – eine Erklärung für die Missverständnisse, die dieses Stück seit seiner Uraufführung immer wieder provoziert hat.

„Weh dem, der lügt!“ war das erste Theaterstück, das Konstanze Fliedl gesehen hat, und zwar weil sich ihre Eltern „von dem Titel eine wichtige pädagogische Unterstützung versprochen“ (S. 217) haben. Zu dem vorliegenden Band trägt Fliedl eine Kurzinterpretation des Stücks bei, die unter einem am Ende des Buchs angegebenen Link zu hören ist. Mit den Audio-Downloads auf der Webseite bit.ly-Franz-Grillparzer, in denen sich neben Fliedl auch Anna Kim, Hans Höller und Clemens J. Setz in sieben bis zwölf Minuten langen Referaten Grillparzer widmen, werden die Herausgeber oder der Verlag wohl einem vermuteten Bedürfnis nach Multimedialität gerecht, ein nettes Gimmick. Ich hätte diese Wortspenden lieber gelesen als gehört.

Peter Turrini bekennt in der Kategorie „Mein Grillparzer“, ihn nicht zu mögen, weil „beinahe jeder Satz“ von Grillparzer „etwas Aufgeblasenes, Schwulstlippiges an sich“ habe. (S. 132) Es ist zu vermuten, dass sich Turrini nicht auf die „Selbstbiographie“ bezieht, ein „Glanzstück selbstkritischer und sich doch des eigenen Wertes als Schriftsteller immer bewussten Selbst- und Gesellschaftsanalyse“ (S. 6), wie die Herausgeber des Sammelbandes diesen autobiographischen Text nennen. Von seiner Existenz wusste auch sein engeres Umfeld nichts und so schreibt die mit Grillparzer befreundete Dichterin Betty Paoli 1872: „Mit nicht geringem Staunen fand man sie in seinem Nachlaß“. Dieses Zitat stellen Kira Kaufmann und Felix Reinstadler als Titel über ihren Beitrag. Kaufmann und Reinstadler befassen sich mit dem Manuskript der „Selbstbiographie“, mit seiner Editionsgeschichte und mit den Bearbeitungsspuren. Ihre Beobachtungen am Material, „zehn Bögen vergilbtes Papier, nicht besonders hochwertig, unliniert, ohne Wasserzeichen, aber wo schreibt man heute noch auf so festem Papier?“ (S. 156f.), lassen eine beinahe rührende Begeisterung über das Archivale erahnen.

Die Freude am Grillparzer-O-Ton ist auch der Zusammenstellung aus den Reisetagebüchern von Ruth Aspöck anzumerken. „Grillparzer auf Reisen“ ist mit einigen hübschen Stadt- und Landschaftsdarstellungen bebildert, wie überhaupt dieses Buch auch etwas fürs Auge ist. „Profile“ ist die Buchreihe des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek und wie in jedem der Bände wird eine Fülle von Originalmaterial, vor allem aus dem Nachlass in der Wienbibliothek, in sehr guter Qualität zur Verfügung gestellt und bereichernd in die Texte eingebaut. In dem Buch gibt es aber nicht nur Abbildungen des Dichters und seiner Manuskripte, sondern auch einen Comic von Nicolas Mahler. Auch der bedient sich der Originalzitate und Grillparzer zweifelt in ihm sehr effizient an sich. Der Sammelband ist eine gelungene Mischung aus verschiedenen Zugängen zu Person und Werk Grillparzers, die die Mission der Herausgeber erfüllt, statt Denkmalpflege zu betreiben das immer wieder neue Lesen, das Dekonstruieren und Konstruieren des „Klassikers für die Gegenwart“ aufzuzeigen.

Bernhard Fetz, Michael Hansel, Hannes Schweiger (Hg.) Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart
Sachbuch.
Wien: Zsolnay, 2016.
224 S.; brosch.
ISBN 978-3-552-05805-7.

Rezension vom 23.12.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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