#Essay

Fragmente einer Sprache der Dichtung

Raoul Schrott

// Rezension von Thomas Eder

Was Raoul Schrott in seinen Fragmenten einer Sprache der Dichtung als Kardinaltugenden der Poesie formuliert, wächst sich gelegentlich zu den geläufigen kapitalen Mißverständnissen aus, die man ihr entgegenbringt. Das umfaßt vor allem drei Bereiche: die Rolle der figurativen Sprache, speziell der Metapher, als Grundlage der Poesie; das Verhältnis von Poesie und Naturwissenschaft; das Verhältnis von Poesie und einer unabhängig von ihr angenommenen Wirklichkeit.

Zurückgreifend auf Nietzsches Diktum von der Wahrheit als einem beweglichen Heer von Metaphern, Metonymien und Anthropomorphismen, sieht Schrott die zentrale Rolle der Metapher für die sprachliche Repräsentation der Welt darin, daß sich in ihr die wörtliche und die übertragene Bedeutung derart überlagern, daß keine hierarchische Beziehung zwischen den beiden besteht: weder dominiert der Ursprungszusammenhang des metaphorisch verwendeten Wortmaterials den Übertragungszusammenhang noch umgekehrt. Die Konnotationen zu diesen beiden Bereichen interagieren und schaffen ein selbständiges Drittes (das tertium comparationis). Dieses erkenntnistheoretische Konzept der Metapher überträgt Schrott auf die Sprache der Naturwissenschaften und deren Gegenstandsbereich. Weil wir in Metaphern und Analogien denken, seien diese die Grundlage der naturwissenschaftlichen Theorien.
Indem Schrott die Metapher als Basis favorisiert, führt er für die Betrachtung des Sprachgebrauchs in der Naturwissenschaft gerade jene Hierarchisierung ein, die er für die Metapher an sich bestritten hat: er betont das Übertragene der naturwissenschaftlichen Formulierung zuungunsten ihres Wörtlichen. So analysiert er z. B. Schrödingers berühmtes Experiment mit der Katze, die zugleich tot und lebendig ist, insofern, als er Schrödingers Sprachgebrauch als metaphorischen bloßlegen will. Schrotts Analyse der Textstruktur des Katzenexperiments soll qua Analogsetzung Metapher – Quantentheorie den Komplex der Quantenphysik näherbringen, ohne sich auf physikalische Kompetenzen berufen zu müssen. Schrödingers Experiment wird als Poesie betrachtet.

Diese universale und mißverständliche Bewertung der Metapher – quasi als ein Deus ex machina der Kognition – führt zur nächsten Annahme in Schrotts Ausführungen: Er argumentiert für einen vertrackten erkenntnistheoretischen Realismus: es gebe Dinge in der Welt unabhängig von ihrer Wahrnehmung; wenn die sprachlichen Begriffe bislang nicht ausreichen, diese Welt hinreichend zu beschreiben, so liegt das nur daran, daß diese Begriffe eben noch nicht gut genug sind. Grundsätzlich aber gebe es die Möglichkeit, solche passenden Begriffe und Beschreibungen zu finden („aus realen Fragmenten Sinn zu machen“). Mittler und Weg zu diesem Zweck sei die Poesie eben wegen ihrer Fähigkeit zu einem figurativen, bildlichen Erkenntnismodus. Denn: menschliche Kognition erfolge in Bildern und Similes, wie naturwissenschaftliche Experimente bewiesen. Bei der visuellen Wahrnehmung (z. B. von geometrischen Formen) würden Neuronen im Hirngewebe so organisiert, daß sie diese (z. B. geometrischen) Formen nachbildeten. Eine solche in der Neurobiologie wie Cognitive Science umstrittene Repräsentationstheorie paßt Schrott in sein realistisches Konzept. Sie beruht auf der Substantialität des Wahrnehmbaren und des wahrnehmenden Apparates. Von dieser – sich selbst nicht eingestandenen – Bastion des Realismus gelangt Schrott zu weiteren problematischen Annahmen: zur Erklärung der sogenannten Wirklichkeit aus der Etymologie (indem er die Geschichte eines Wortes mit substantieller Realität versieht); zur „Enttäuschung darüber, daß die Literatur reale Fakten verfälschen muß, um ihren Effekt zu erreichen“ (demgegenüber sind die Gedichte in Schrotts Gedichtband „Hotels“ von dem Anspruch getragen, „man müsse die Orte so wiederfinden können, wie sie beschrieben sind“); zur Vorstellung schließlich, die poetische Sprache sei den Chiffren der Natur verhaftet (etwa in der Analogie, die er zwischen der Struktur einer Metapher und der Symmetrie eines Kristalls behauptet).

Was Schrott in diesen Annahmen voraussetzt, was ihm die Basis für seine Dichtung und Poetik abgibt, das steht in anderer Dichtung, die die Poesie als Erkenntnisinstrument betrachtet und zugleich hinterfragt, auf dem Spiel.

Raoul Schrott Fragmente einer Sprache der Dichtung
Grazer Poetikvorlesung.
Graz, Wien: Droschl, 1997.
174 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 3-85420-471-X.

Rezension vom 16.12.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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