#Lyrik

Flussgang

Robert Schindel

// Rezension von Alexander Peer

Man muss einiges an Bildung auf das Leseschiff mitnehmen, will man beim Flussgang nicht kentern. Zunächst irritiert der Titel, lassen doch die aneinander gefügten Wörter an einen Widerspruch denken. Wo etwas fließt, kann man nur schwimmen, möchte man meinen. Vielleicht gegen den Strom anschwimmen, aber doch nicht gehen? Gleichzeitig erinnert dieses zusammengesetzte Hauptwort an den alten Topos: Wer würde nicht im Gang des Flusses die Lebensreise per se erkennen?

Viele Gedichte in diesem Band weisen auf einen aufrechten Gang hin, ganz im Sinne einer politisch engagierten Dichtung. Hier wird Unrecht benannt. Gräueltaten sollen vor dem Vergessen bewahrt sein – denn der Fluss der Zeit nimmt eben auch dieses Erinnern an Unrecht mit, das Wasser der Zeit agiert gnadenlos. Gerade daran lässt sich jedoch das gelungene, nicht durch geistige Osteoporose vor dem Ende schon gebrochene Leben bemessen, wenn trotz dieses endlosen Mäanderns die Unterscheidung von Gut und Böse gelingt.

Gleichzeitig irrlichtert durch das Buch eine harlekinöse Tonalität. Es spricht hier einer, der zwar den unvermeidbaren Verlust körperlicher Souveränität beschreibt, aber sich clownesk dagegen wehrt und als Schalk seine Vitalität sichert. Aus diesem Lebenselixier spitzbübischer Überdrehtheit schöpfen diese Gedichte ihre Einfälle sowie ihre Form. So naschen Lesende am frech-frivolen Nektar.

Gedichtsammlung meint hier das Verstreute. Mit sieben Kapiteln reguliert Schindel seinen Flussgang. Es lassen sich Bezüge zur jüdischen Religion und Geschichte festmachen, manche fokussieren auf den Holocaust und die Folgen des Zweiten Weltkriegs. Im Gedicht Le Mont-Saint-Michel ist einfach Dankbarkeit ausgedrückt:


Wir legen Steine auf die Gräber

auf dem Amisoldatenfriedhof
Für die welche ihr Leben tauschten
mit unserem (S. 64)

 

Steine auf Gräber zu legen, bedeutet an Tote zu gedenken. Mit diesen zurückgelassenen Steinen kann der Tote sein Haus bei Gott errichten. Das Lebensthema des 1944 in Bad Hall bei Linz geborenen Schindel wird umso griffiger, je mehr man sich seine ersten Jahre bewusst macht. Als Kind bei Kommunisten in Wien versteckt, überlebte er den Nationalsozialismus. Seinen Vater René Hajek hingegen ermordeten die Nazis am 28. März 1945 im KZ Dachau. Die Mutter überlebte die KZs Auschwitz und Ravensbrück. Die Shoah ist in vielen Büchern Schindels ein Thema.

Dass die größere Sensibilität für Antisemitismus in diese Biografie eingeschrieben ist, erhöht die Wahrnehmung für das Leid der anderen. Durch die wundersame Rettung vor dem Tod schwingt jedoch Verbundenheit und Hilfsbereitschaft mit. Es überrascht deshalb nicht, hier einige Gedenk-Gedichte zu finden. So flüstern die Heimatlosen im Gedicht Exul London dem Autor zu, er möge ihr Schicksal nicht vergessen. Mitfühlend geht er jenen nach, die es ins rettende England geschafft haben und erinnert daran:


Es wispert aber nicht aus den Hausmauern heraus

Wie im heutigen Lemberg. Dort gurgelt
Immer noch das Blutmeer hier aber
Sind die soliden Menschenburgen fein beregnet
Und werfen ihre Schimmer in meine Augen. (S. 55)

 

Der Lyriker gelangt mehrmals ins „Geschnarch vergangener Zeiten“, einmal ist es das andalusische Cordoba, das vor rund 1.000 Jahren ein einmaliges Exempel der Koexistenz aller drei abrahamitischen Religionen schuf. In An der Ecke Ibn Gabirol erinnert Schindel an den im 11. Jahrhundert lebenden jüdischen Philosophen, dessen theoretisches Hauptwerk Die Lebensquelle posthum starken Einfluss auf die christliche Scholastik ausübte. Die stimulierende Wechselwirkung kluger Schriften – unabhängig von wessen Feder sie verfasst wurden –, die das mittelalterliche Andalusien zum Impulsgeber für ganz Europa werden ließ, sollte uns heute mehr denn je als Vorbild dienen. Im kurzen Gedicht vermengen sich Gegenwart und ferne Vergangenheit zu einem Lob zeitloser Haltung:


An der Ecke Ibn Gabirol und David HaMelech

Unter der trumpfhaften Aprilsonne
 Ausgestreckt auf einem Sessel der Brasserie
Spüre ich den Wind der die Wolken vom Meer
Über das Land treibt. Vorübereilt das tausendfüßige Israel
Stehend trotz aller Blutwunden Ächzen Zähne knirschen.
Nun legt die Sonne zu ich sehe zum Schatten hinüber.
Unbewegt das begonnene Jahrtausend.
(S. 51 / Anm.: David HaMelech ist hebräisch für „David, der König“)

 

Offenkundig ist die politische Aktualität. Zugleich wirbt das Gedicht für den gelassenen Blick trotz allen Schmerzes. Schmerz ist ein vertrauter Begleiter für einen, der alt ist. Gleich zwei Gedichte, in welchen Grübelei und Lebenslust in einen Wettstreit treten, sind mit Senex (lat. der Greis) betitelt: Bald sitze ich und wiege mich / So kommts mir vor / Auf der Deichsel des Großen / Wagens und ziehe durch sämtliche / Dunkelheiten hin zu den Lichtern, heißt es, doch gleich darauf das rettende Aufbäumen: Zurückgeholt mit dem Stimmungslasso / Das Verwandlungsbild an dessen Rahmen / Die Ösen das Tau aufnehmen (Senex I, S. 17).

Diese psychodynamische Nahaufnahme begleitet einen durch den Band, der motivisch wieder und wieder aus den Fluss-Konnotationen schöpft. Es ist im besten Sinn ein Flussband. Benachbart ist das Erkennen des Verfalls und das Schöpfen der Lebenslust. Stromlinienförmig geht es bis ans Delta. Einen besonderen Beleg für widerständige Überdrehtheit, dass dieser Flussgang noch nicht ins Ende münden möge, leistet das Gedicht Wie durch den grauen Tann. Der Nadelwald hat seine leuchtende Grünheit eingebüßt, aber die Grauheit wird nicht tatenlos hingenommen:


In den Müdigkeiten schwimme ich neuerdings

Wie in einem moorschläfrigen See
Auf den Munterkeiten reite ich
Wie durch den grauen Tann

Aber das Sitzen im Sessel
Mit den Genossen Kniescheiben unterm Kinn
Macht pfefferglücklich wenn dazu die Zeit fiedelt

Bevor ich einschlaf besänftige ich die Hoden
Kaufe beim Vormorgenkiosk zwei drei Träumlein
Damit sie meinen Erdboden streifen und betrüffeln (S. 38)

 

Todessehnsüchtige werden dieses Buch enttäuscht weglegen. Es wird ihnen mit dieser Gedicht-Sammlung kein schwermütiger Stoff verkauft.

Es vermengen sich umgangssprachliche Ausdrücke wie „knotzen“ oder Phrasen wie „mir geht der Reis“ mit ein paar Neologismen, mythologischen Verweisen (wie dem Hinweis auf Vineta im Gedicht Travestie) und wunderlichen Wortgeschöpfen, die unversehens aus dem Fluss emportauchen. Manch assoziativer Doppelrittberger wirkt bemüht. Manchmal tritt der Stil über das Ufer. Aber wer plädierte nicht dafür, die Grenzen der Sprache zu erweitern?

Die Lust am Fabulieren ist stets ein (Über-)Lebensmittel; auch um politischen Opfern eine Stimme zu geben. In den Hans Joachim Schädlich gewidmeten Aussichten verwandelt Schindel Denunzianten in Lurchmäuse. Der in der DDR sozialisierte Schädlich musste in die BRD emigrieren, um publizieren zu dürfen. Erst nach der Wende fand er heraus, dass ihn sein Bruder im Auftrag der Stasi bespitzelte. Voller Trotz lehnt sich die letzte Strophe gegen das Unbehagen in der Kultur:


Ich gehe in die Zukunft hinein diese

Bretterbude zusammengehalten bloß von
Nägeln die aus Schnappwörtern geschmiedet (S. 59)

 

Alexander Peer, geb. 1971 in Salzburg, Studien in Germanistik, Philosophie und Publizistik. Peer lebt heute als freier Autor in Wien. Zahlreiche Beiträge zu Literatur, Philosophie und Architektur. Bücher (Auswahl): 111 Orte im Pinzgau, die man gesehen haben muss (Emons Verlag, 2022), Gin zu Ende, achtzehn Uhr, Der Klang der stummen Verhältnisse, Bis dass der Tod uns meidet sowie Land unter ihnen (alle Limbus Verlag) sowie Ostseeatem (Wieser Verlag 2008). www.peerfact.at

Robert Schindel Flussgang
Gedichte.
Berlin: Suhrkamp, 2023.
95 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-518-43140-5.

Link zum Verlag mit Leseprobe

 

 

Rezension vom 19.12.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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