#Roman

Flugschnee

Birgit Müller-Wieland

// Rezension von Erika Kronabitter

„Nach Hause möchte ich„. Damit beginnt Birgit Müller-Wielands neuer Roman Flugschnee. Ein diffuser Satz, eine Sehnsucht, Unklares, das Dinge erahnen lässt, allerdings nur Umrisse frei gibt. Schemenhafte Gestalten, schemenhaft die Erinnerung. Nach Hause. In welches Nachhause? Ist es Flugschnee oder Sand, Treibsand oder Sand im Lebensgetriebe, der diese diffusen Gefühle erzeugt? Sind es Drogen? Von der ersten Seite an werden die LeserInnen von einem nicht greifbaren Sog erfasst.

„Wie kann eine unterdrückte Erinnerung von einer Person an eine andere Person weitergereicht werden?“ (S. 191). Es ist ein Herumirren/schwirren, ein in der Nichtanwesenheit Anwesendsein: Das Berlin der Gegenwart und Berlin bzw. Hamburg vor 20 Jahren sind die geografischen- und Zeitachsen, an welchen sich Erinnerungspunkte entlang bewegen, hin- und her schwingen, sich anreichern, bis aus dem kleinen Schneeball eine Lawine wird, die mit rasanter Geschwindigkeit ins Tal stürzt. Birgit Müller-Wieland gelingt es, die LeserInnen mit auf eine, nein: mehrere Lebensreisen zu nehmen und sie handelt dabei die innerseelischen Prozesse über Körperprozesse, Gestik und Gebärden ab. Da ist Lucy, die Fragen an ihren Bruder Simon stellt, Simon, der verschollen ist, abhanden gekommen in ihrem Leben. Lucy, die dadurch – oder vielleicht durch viel tiefer Verborgenes – hineinfällt in eine Leerstelle, in die unaufhaltsame Tiefe dieses Verlustes.
Genau dieser Verlust aber ist es, der sie veranlasst, die ganze Familiengeschichte durchzudenken, zu fragen und zu suchen und im Suchen die kaleidoskopartigen Erinnerungssplitter der Generationen zusammen zu setzen.
Die familiären Konstellationen, die Beziehungen, Fremd- und Eigenbefindlichkeiten werden beim Nachdenken über eine Person, beim Betrachten eines Bildes, beim Blick aus dem Fenster eingewoben, wodurch auf subtile Weise die einzelnen Charaktere in ihren Verstrickungen erahnbar werden.

Auffallend ist, und daraus entsteht ein besonderer Reiz des Textes, wie die Autorin ihre Figuren einführt: Lucy, Simon, Vera, Arnold, Lorenz, Arnold Ernst, Helene, Johanna sind Familienangehörige, welche, in Summe vier Generationen zugeordnet, von der Autorin aber mehr oder weniger über ihre Vornamen vorgestellt werden. Ebenso Lisa und Samir, die beiden WG-Mitglieder.
Eigentlich eine glückliche Familie, würde man auf den ersten Blick konstatieren, eine gut situierte Gemeinschaft, wären da nicht die Brüche in jedem der Leben. Lucy, die Zwiegespräche mit dem verschwundenen Bruder führt, die mit Depressionen kämpft, mit dem Messie-Zustand in ihrem WG-Zimmer. Lorenz und Helene, ihre Großeltern, die 20 Jahre davor mit dem Altwerden, mit der Angst vor der Erkrankung kämpfen. Lorenz, dessen Schritt vor der Bildergalerie der Ahnen stockt und der sich die Frage stellt: Seit wann schlafen wir getrennt – fünf Jahre oder zehn Jahre? Die Nachbarin Johanna, die Angst vor dem eigenen Kind hat (so hörte Helene ihre Mutter erzählen) und später Arnold Ernst, der es nach der Kristallnacht „nicht schön“ gefunden habe, was mit den Juden passierte, aber „notwendig“ (S. 226). Die gegenseitige Angst um den anderen (Lorenz und Helene), die zu Heimlichkeiten führt. Helene, die gegen das Vergessen und um ihre Erinnerungen kämpft. Johanna, die bei einem Bombenangriff ums Leben kommt. Lisa, die nach einem One-Night-Stand, den sie schon währenddessen nicht ausstehen konnte, abgetrieben hat. Und Vera, die Lucy gesteht, dass auch sie ihr drittes Kind nicht mehr wollte. Lucy, deren Beziehungen bisher nie geklappt haben und die dumpf von der Überlegung heimgesucht wird, dass dieses abgetriebene Geschwisterchen vielleicht die Ehe ihrer Eltern hätte retten können. Ein Bruchstück wie eine Eisscholle, die im Ergreifen bereits wieder entwischt.
Über allem steht die Suche nach dem verschwundene Bruder Lucys und die Erkenntnis, wie erschreckend wenig Lucy und seine Freunde von Simon wissen. Ist er in den Untergrund abgetaucht? Hat er sich einer Gruppierung angeschlossen. Wie kann so etwas passieren und was ist passiert?
Zeile um Zeile wird jede der Personen entblättert. Dabei friert die Autorin die jeweilige Figur quasi ein, ein Stopp-Motion-Projekt. Bei jedem Stopp bleibt die Zeit zwar nicht stehen, doch die Figur erinnert sich schlaglichtartig an Szenen aus der Vergangenheit, während das Geschehen rundum weitergeht. Das Grauen, der Schmerz wird angedacht, aber nie durchgespielt. Kippbilder, die in Sekundenbruchteilen einen Einblick gewähren, um das Gesehene mit dem nächsten Kippen wieder zu verbergen.

Birgit Müller-Wielands neuer Roman Flugschnee ist fordernd. Da gibt es kein Zurücklehnen und Es-sich-gemütlich-machen: Aufrecht und mit gestrafftem Rücken ist man als LeserIn dabei, den assoziativen Bildreihen zu folgen. Es sind Bilder, die springen, Menschenseelenbruchstücke und Glücksmomente, die sich langsam zu einem Ganzen fügen. Mit Verweisen wie z.B. auf Karin Boyes Dystopie „Kallocain“ eröffnen sich den interessierten LeserInnen zudem neue Spannungsbögen: Hat das Buch etwas mit Simons Verschwinden zu tun? Wie sehr kann ein digital sozialisierter Mensch von Büchern beeinflusst werden?
Flugschnee ist auch ein Beschreiben des Älterwerdens und des Sich-Verlierens, ein Suchen nach einem Ankommen und ein Sich-Finden. „Es ist möglich, daß Eigenschaften ihrer Groß- und Urgroßeltern in ihrem Wesen hervortreten … Sie muß alles auf eigene Art gesehen haben, schon bevor sie sprechen konnte, und dann – ja, du weißt es ja selbst, sie hat so eine besondere Art.“ (S. 156). „Flugschnee“ ist ein Hoffnungsträger: Dass das Leben weitergeht, ein Weiterundweiter durch die Kinder und Kindeskinder – die Nachkommen verwoben mit dem Früher.
„Nach Hause möchte ich„, lautet die erste und „Jetzt bin ich da“ die letzte Zeile des Romans. Zu Hause sein können, trotz allem – das ist Glück.

Birgit Müller-Wieland Flugschnee
Roman.
Salzburg: Otto Müller, 2017.
343 S.; geb.
ISBN 978-3-7013-1248-1.

Rezension vom 09.05.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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