#Roman
#Prosa

Fliege

E. A. Richter

// Rezension von Alexandra Millner

Eine winzige Fliege setzt sich auf die Nase des Erzählers – das ist der Ausgangspunkt für diesen „Roman eines Augenblicks“, den E. A. Richter unter dem Titel Fliege in der Wiener Edition Korrespondenzen vorgelegt hat. Diese Stubenfliege, „musca domestica“, landet zuerst auf der Nase, dann auf dem Computermonitor des Erzählers. Sie löst in ihm einen Gedanken- und Schreibprozess aus, der ihn über allerlei Assoziationen von den aufgetürmten Ordnern, Zeitungen, Manuskripten, Büchern, Notizheften, Handtüchern und Socken auf seinem Schreibtisch weg- und in seine Vergangenheit zurückführt. In seinem Schrebergartenhäuschen am Rande von Wien, „einem urbanen Schneckenhaus an der Peripherie“, reflektiert er nun sein Leben, das von außen betrachtet vor allem aus Beobachten und Erinnern, Fotografieren und Filmen, aus Notizen und Schreiben sowie Liebesgeschichten zu bestehen scheint.

Die Fliege auf der Nase führt ihn zur Fliege im Auto nach dem Besuch beim Bruder und zurück zu den Fliegen der kargen Kindheit auf einem Bauernhof; von den grüngolden schillernden Schmeißfliegen auf Hundekot zurück zur Mutter, die vom Vater immer „seine Goldige“ genannt wurde. Die Fliege iniitiert einerseits das assoziative Verfahren des Romans, der sich wohl am besten als lose Aneinanderreihung verschiedener Erinnerungsepisoden aus dem Leben des Erzählers beschreiben lässt. Sie versinnbildlicht aber auch die reflektierte und nach Zusammenhängen suchende Wahrnehmung des Erzählers: Wie die Fliege aus den vielen Einzelbildern muss sich auch der Leser aus den assoziativ verknüpften Anekdoten ein mosaikhaftes Gesamtbild zusammensetzen, das allerdings ein großes Blickfeld umfasst. Die zeitlich rasche Aufeinanderfolge der Bilder des Fliegenblicks finden dabei im Nebeneinander der unterschiedlichen Zeitebenen ihre Entsprechung. Ziel dieser von einer Fliege in Gang gesetzten Aufzeichnungen sei „der systematische Abbau aller Tabus“, „die Verweigerung jeglicher Selbstzensur“, so der Erzähler zu seiner Freundin Flora. Davon werden weder die ersten sexuellen Erfahrungen noch voyeuristische Anflüge eines in die Jahre gekommenen Mannes ausgespart.

Die Treffen und Gespräche mit der Kulturjournalistin Flora – das ist die Gegenwartsebene der Erzählung: Floras Verzagen am eigenen beruflichen Tun, die Klagen über die Unbedanktheit ihrer Bemühungen und ihr sagenhafter Narzissmus. Mit ihr räsonniert der Erzähler u.a. über das Wesen der Erinnerung und über Schreibprozesse und reflektiert kritisch über Kultur und Kulturpolitik. In ihren Dialogen entwickelt sich außerdem ein herrliches Geplänkel zwischen zwei Liebenden im Flirt.

Im Gegensatz zur jung wirkenden Flora, die seines Schutzes und Ratschlags durchaus bedürftig erscheint, steht die unter Kuratel ihres Vaters stehende Ex-Frau Karla, die der Erzähler noch als junger Student ehelichte. Die Geschichte mit Karla umfasst die 1970er Jahre in Wien und die durch radikale Gruppierungen wie die RAF in Deutschland aufgeheizte, gegen die Jugend im Allgemeinen gerichtete Stimmung in der Bevölkerung. Der Erzähler hat in eine einigermaßen wohlhabende Familie eingeheiratet. Der vermeintlich großzügige Schwiegervater Karl, ein höherer Beamter und obsessiver Häuslbauer, lässt keine Gelegenheit ungenützt, dem Argwohn gegen den ungeliebten Schwiegersohn Ausdruck zu verleihen, was darin gipfelt, dass er ihn wegen Terrorismusverdacht anonym bei der Staatspolizei anzeigt. Die unglückliche Beziehung zur Tochter, die mit der Scheidung endet, und der stete Konkurrenzkampf mit deren Vater gehören zu den traumatischen Erfahrungen des Erzählers.

Birgit, die Stadtarchäologin, mit der er einst das Schrebergartenhäuschen bezogen hat, steht zwischen den beiden Lebensphasen und den dazugehörigen Frauen. Sie ist in der Geschichte des Erzählers mit klugen Beobachtungen, liebenswürdigen Gesten und ironischen Formulierungen präsent, das versöhnende Element, die Begleiterin seiner Menschwerdung.

Die vierte zeitliche Ebene wird unter anderem aus Fotografien erschlossen, die dem Erzähler in seinem absichtsvollen Schreibtischchaos zufällig in die Hände fallen beziehungsweise einer Fotoschachtel entstammen. Die Fotos führen den Erzähler direkt in seine Kindheit und Jugend zurück, zu seinen Eltern am Bauernhof, dem arbeitsamen, wortkargen Vater und der seit einem Arbeitsunfall an einer körperlichen Behinderung leidenden Mutter, und zu seinen ersten sexuellen Erfahrungen.

Die assoziativen Erinnerungen sind in Gedankenberichte des Erzählers, Notizen aus den 1970er Jahren oder kunstvolle, doch leichtfüßige Dialoge voller Klugheit und Witz verpackt. Dabei entgeht E. A. Richter der Gefahr falscher Nostalgik, indem er die Erzählerreflexionen meist auf sinnenhafte, vor allem visuelle Wahrnehmungen fokussiert und die Erkundungen der emotionalen Landschaften seines Ich-Universums in Dialoge verpackt. Durch die Abfolge von Rede und Gegenrede erreicht er eine Ironisierung und Leichtigkeit, die auch tiefgründige, von philosophischer Schwere befrachtete Themen leicht zugänglich machen. Besonders eindrücklich geschieht dies in den Gesprächen mit der Therapeutin, in denen er den Verlust der Eltern und das Scheitern der Ehe zu verarbeiten versucht, weil hier der Erzähler seine Selbstironie feiern kann. Er kommt nicht besonders gut weg, was den Eindruck, es mit einem Antihelden à la Tristram Shandy – mit dem er sich im Übrigen auch selbst vergleicht – zu tun zu haben, noch verstärkt. Mit seinen Selbstzweifeln und seinem Optimismus, seiner gesunden Bescheidenheit und ungesunden Nachsichtigkeit, seiner naiven Lust an Sexualität und seiner von Angst, Schmerz und Faszination gekennzeichneten Auseinandersetzung mit dem Tod ist der Protagonist eine in sich gebrochene Figur, die genügend Spannung birgt, um das Interesse an ihr zu wecken und deren Gedankenwege gerne mitzuverfolgen. Dabei erfährt man nicht nur vom inneren Werdegang eines Menschen, sondern aufgrund skizzenhaft ausgeführter Episoden und atmosphärischem Kolorit auch von sozialen und politischen Entwicklungen in Österreich in der Nachkriegszeit, in den 1970er Jahren sowie in der jüngsten Vergangenheit. Der Roman kann auch als der Versuch eines „Achtundsechzigers“ betrachtet werden, die Kriegsteilnehmergeneration seiner Eltern zu verstehen.

Zwei Eigenschaften gilt es an diesem Text besonders hervorzuheben: Zum einen liest man durchwegs den Blick des Augenmenschen Richter mit, der sich neben seinen lyrischen und Prosatexten unter dem Namen Richtex auch als bildender Künstler mit Installationen, Fotografien und Videos einen Namen gemacht hat. Die Körperlichkeit des Textes speist sich aus den genauen, plastischen, auch schonungslosen Beschreibungen menschlicher Körper. Ihre keineswegs dem klassischen Ideal entsprechende Schönheit wird durch die nüchternen Augen eines Künstlers betrachtet, der sie mit großer Liebe zum Objekt beschreibt, ohne sofort mit erotischen Phantasien behaftet zu sein. Besonders im Dialog mit dem Freund Heimo gibt es kluge, anspielungsreiche Passagen über diverse Werke aus Kunst und Literatur, wie etwa Gerhard Richters Gemälde „Ema (Akt auf einer Treppe)“.

Die andere Besonderheit besteht darin, dass sich der Erzähler seinen Figuren auf ausgesprochen liebevolle Weise nähert, auch wenn sie seine schmerzhaften Lebenserfahrungen verkörpern. Im genauen Hinsehen auf seine Figuren findet der oben erwähnte Abbau der Tabus statt, der E. A. Richters Roman Fliege die Tiefe des Augenblicks erkunden lässt.

Fliege.
Roman eines Augenblicks.
Wien: Edition Korrespondenzen, 2010.
228 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-902113-60-3.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 14.02.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.