#Prosa

fleurs

Friederike Mayröcker

// Rezension von Marietta Böning

Friederike Mayröckers halbflorale Poetik des Erinnerns

Der Titel „Glas“, eines der Hauptwerke Jacques Derridas, gilt als eigentlich unübersetzbar, eine Eigenschaft, die sonst am ehesten lyrischen Texten zugeschrieben wird, und bedeutet im Französischen „Totenglocke“. Friedericke Mayröcker hat ihre Prosa bzw. lyrischen Aphorismen fleurs als dritte einer Trilogie nach „études“ und „cahier“ an die Struktur von „Glas“ angelehnt.

Wie Derrida zweispaltig schreibt, in einer buchlangen Spalte Hegels dialektisches, als total durchrationalisiert gedachtes (und deshalb wahnhaftes) System des absoluten, zu sich selbst gekommenen Geistes de-konstruiert und in der gegenüberliegenden sich mit Jean Genet beschäftigt, also einem Gegenstück zu Hegel – einem Dieb, Homosexuellen und fragmentarischen Geist, so schreibt auch sie zweispaltig, zwei Stränge, die für sich selbst stehen und aufeinander bezogen werden können, so wie alles aufeinander bezogen werden kann und nicht muss. Wie „Glas“ entbehrt auch „fleurs“ des anfänglichen Anfangs und endlichen Endes, selbst eines letzten Satzendes mit Punkt, Mayröcker und Derrida sind bereits durch diese kleine Geste mit Genet verbunden – während Mayröcker ja immer schon durch Halbsatzverfransung spricht (vernetzt, ver-dichtet): keine Totalität durch gesetzten Ursprung und gesetztes Telos. Die Totenglocke hängt über Hegels Dialektik als Inbegriff des geschlossenen Systems in der scientific community.

Mayröckers Auseinandersetzung mit Rationalität und Irrationalität birgt zwar keinen unausgesprochenen Feminismus, setzt sich jedoch sehr bewusst dem Stigma weiblicher Zerfahrenheit aus, indem es sich ausgesprochen weiblicher denn je exponiert im gleichzeitigen Sinne des Gegenteils, und ist darin ihr vielleicht radikales Werk. Im Fotogedächtnis überlagern sich Bildmetonymien androgyn, sodass, wenn ein scheinbar geschlechtlich zuordenbares sprachliches Verhalten herauswächst – beispielsweise ist immer wieder von einer „Puppy“ die Rede, natürlich auch in Assoziation mit erinnerter und projizierter Mutterschaft – das Geschlecht dennoch fehlt. Bei einer Umarmung sieht eine schwarze Locke wie ein Moustache aus, oder das Du verliert sich im ein-, weg-, aus- und hergezoomten „weiß blühende[n] Bäumchen, Kirschblütenzweig, Fink Schwalbe im verhangenen Himmel, Gedicht. Fuß und Hand des Gedichts, Leib des Gedichts“. Und „wohin fließt der Leib des Gedichts“ ist die Folgefrage. Was ist das für ein Leib, ein androgyner Vogelleib, ein androgyner Blumenleib, Zweig, Synekdoche, oder fallen alle rhetorischen Kategorien nicht auch, denn wenn der Kirschblütenzweig für das Du steht oder den Vogel, ist der dann mehr Pars als Toto denn das ganze Bäumchen?

Mayröcker führt das Skelett einer von ihrer rationalen Basis ausscherenden Textur vor, wenn jene aussagen möchte, „a rose is a rose is a rose“ (Gertrude Stein, aus dem Gedicht „Sacred Emily“, 1913). So pragmatisch wie Stein es auch gemeint haben mag, wenn sie sage, eine rote Rose sei rot, sei sie keine Närrin – so irrational mag rational sein, wenn gar nichts real ist, was kategorisch bezeichnet wurde, also nur bezeichnet. Das Universalienproblem im Nominalismus, dies alte Thema der Moderne bleibt Mayröckers „Puppy“. Sie schaut ihr ins Gesicht als Gedicht, die Puppy für die Dichterin, die ganz genau weiß: nichts als wiederum l`art pour l´art (gesetzt diese gibt es), die der Frage nach absoluter Wahrheit per se sich nicht einmal stellt, geschweige denn diskutiert. An anderer Stelle steht als Motto für dieses Buch „Für mein Efeublättchen“, wieder ein Pars als Toto. In diesem Sinne bekennt sie sich als Realistin zur Närrin, die für Hegels rational geglaubtes Schema einer patriarchalischen Filiationsordnung bürgerlicher Familiarität subordinativ ist. Während Stein weiß, es gibt noch etwas anderes, wo sie schreibt „bin keine Närrin“ und damit diese Selbstzuschreibung keineswegs für undenkbar hält, schreibt Mayröcker sich im Subtext von der Närrin frei, während sie sich selbstprojektiv ausdrücklich des „Filmrisses“ und anderer irremachender Begriffe bedient.

Ins Gedächtnis gesetzt oder gerufen, leben jedenfalls Fink und Schwalbe fort im Text, selbst wenn der Kirschblütenzweig inzwischen verblüht. Das Vergehen ist wiederum Thema, durch das Glas, Fensterglas zumal werden die bildhaften Wesen transparent gemacht, gedanklich herangezoomt. Oder so formuliert: Das Du lebt fort im Bild dieser Schwalbe: „Transparenz deiner Poren aber mit Händen voller Blumen. Nämlich die exzerpierten Absätze um 1 weniges ändern dasz man ihre Abkunft = ihr Original nicht mehr erkennen kann und Jean [vermutlich imaginierter Genet] sagte, ich hatte den Drang abzumähen die Sträusze der Wiese, oder mich selbst zu verschlingen“.
Mayröckers metonymisches Schreibritual ist Wucherung, aber auch Überschreiben und damit, ja, Abmähen oder sich selbst Verschlingen. Die Frage, ob „Fleurs“ dieses scheinbar selbst verordnete Programm einlöst, wäre schon der rationalistische Ansatz, es klingt nämlich nur nach Programm, ist vielmehr Beschreibung. Eher der natürliche poetische Körper der Sprache. Und Blume ist hier nur eine glückliche Metapher, kennt sie ja kein Original und wird sie geschnitten und wächst sie ja wieder. Das Thema schreibt Mayröcker weiter in den Diskurs über Kunst, wenn sie ihre „Verbalträume“ in Kunstwerke führt. In einem Gemälde Andreas Grunerts findet sie den Wind Blumen pflücken, M. die Sonne zerspringen lassen und „Rehkitze der Sonne“ und ein „abgefallenes gezähntes schwebendes Blatt mit Frosch“ – der Leser weiß nicht weiß, ob auf dem Bild Kitze sind oder nur der Frosch, ob es zwei Bilder sind. Das ist egal, es geht nicht um Grunerts Bild, es geht viel mehr um das eigene.

Auch altbekannte Bilder der Mayröcker kehren zurück: die Zwillingskirschen (Kinderohrringe), Mond und Fittich, Beeren, die ganze Vegetation. Mayröcker schreibt vom Schatten und vom Sterben der Blume, das sind Ahnungen, während doch meistens die Sonne sehr scheint und bleibe. Die Textur ist das alte Rankengewebe in Mayröckers typischer Stichmusterformel, aus der zuweilen die Muster ausscheren, also Ornamente, oder Scheren über ihnen klappern, also ornamentieren. Kaum eine Dichterin zieht einen so großzügig in die eigenen Assoziationen, weil ihre Wörter für die Leser so wunderbar offen leicht in der Höhe sich wiegen. „A Rose is a rose“ als Kontrapunkt unten am Fuß, und so folgt auch eine Liste mit „Schwertlilien, Malven, Ringelblumen, Veilchen, Hyazinthen, Gauklerblumen, Lupinen, Carolinenrosen“. Hier Wurzeln und Arten, dort ist es luftig und „haft“: wegzublasen, abzufallen, aufzutauchen, fortzupflanzen; heißt auch, die ansozialisierte Person sich löschen lassen zu sehen. Ein androgynes inneres Wesen strebt weiter: „Die innere Welt muss wieder äuszere Welt werden = das Gedicht“.

Friederike Mayröcker fleurs
Prosa.
Berlin: Suhrkamp, 2016.
152 S.; geb.
ISBN 978-3-518-42520-6.

Rezension vom 05.09.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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