#Roman
#Prosa

Flammenwand.

Marlene Streeruwitz

// Rezension von Marina Rauchenbacher

„Es war immer das Bild zuerst da und dann die Wirklichkeit“, heißt es in Marlene Streeuwitz‘ Roman Flammenwand. Aus Sicht der Protagonistin Adele Süttner meint dies die Differenz zwischen Präsentation und dem Dahinter / der ‚Wirklichkeit‘: „Es war immer das Bild zuerst da und dann die Wirklichkeit. Sie war auf diese Bilder angewiesen, ihre Entscheidungen zu treffen. Das gelang, und das gelang nicht.“ Adele verbindet diese Feststellung mit dem – für den Roman zentralen – Thema des Betrugs durch den Partner: „Ihr Bild von ihm war nie er gewesen.“

Erzählt wird ein Tag im Leben Adeles, nämlich der Tag, an dem sie davon erfährt, dass ihr Partner Gustav sie (möglicherweise) betrügt, Schauplatz ist Stockholm. Die Erzählung bietet in ihrem Detailreichtum eine differenzierte Charakterstudie: Adele ist traumatisiert durch den gewalttätigen Vater und die miterlebten Misshandlungen des Bruders, durch die tatenlose Mutter, schließlich durch den Tod des Bruders und – übergreifend – durch eine patriarchale, faschistisch geprägte Gesellschaft. Darüber hinaus bzw. damit korrespondierend handelt Flammenwand auch von der eigenen Entstehung zwischen 19. März und 9. Oktober 2018, erzählt wird nämlich in 91 Kapiteln bzw. Tagen in diesem Zeitraum. Jedes Kapitel ist entsprechend mit Datum und Ort sowie einer Anmerkung versehen. In den Anmerkungen wiederum dokumentiert Streeruwitz die politischen Entwicklungen in Österreich unter Schwarz/Türkis-Blau III (Kurz-Strache).

Just in dieser Verbindung vom Erleben einer Figur mit politischen Entscheidungen werden die Auswirkungen des politischen Handelns im Besonderen greifbar. Zentrales, in Flammenwand immer wieder verhandeltes Beispiel hierfür sind die schwarz/türkis-blauen ‚Reformen‘ im Schulwesen, wie beispielsweise die Wiedereinführung der Noten und des Sitzenbleibens in der Volksschule oder die verschärften Strafen beim Schuleschwänzen. Aus der Perspektive Adeles sind diese Maßnahmen durchaus als Disziplinierungsmaßnahmen des (kindlichen) Körpers im Sinne Michel Foucaults zu verstehen, worin sich wiederum ihre Erfahrung mit den Eltern spiegelt: „Diese Regierung. Die Eltern wurden für die benoteten Kinder zur Rechenschaft gezogen. Es wurden hohe Geldstrafen für Verfehlungen der Kinder diktiert. So. Es war sichergestellt, dass das mit dem Strafen der Kinder wieder begonnen wurde.“ Und: „Kinder. Das waren wieder zu disziplinierende Kleineinheiten.“ Sowohl ihr Leben als auch die politischen Entwicklungen sind Ausdruck einer autoritären Erziehung, wie sie als für Österreich charakteristisch beschrieben wird.

In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur beschreibt Streeruwitz Adele Süttner als die ‚markierte Person‘, als Objekt der Manipulation. Adele wird diese ‚Markierung‘ – stellvertretend für andere – in aller Schmerzhaftigkeit durch die Erkenntnis des Betrugs bewusst, was zu einer massiven Veränderung ihrer Wahrnehmung, zu einer nachgerade lebensbedrohenden Destabilisation führt. Dieses ‚andere Erleben‘ jedoch ermöglicht prinzipiell auch Alternativkonzepte sowie eine Subversion des angelernten Sehens – und damit auch ein Neudenken von angeeigneten, determinierenden ‚Bildern‘. So ist beispielsweise Adeles Erkenntnis, sie wünsche sich womöglich, dass Kinder bestraft würden, weil sie „zuschauen musste. Wollte. Darauf trainiert war, beim Strafen zuzusehen“ (85f.), elementar für die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und dem eigenen Geworden-Sein.

Adeles Erleben dient dabei auch als Spielfeld für die Erprobung und Imagination eines alternativen Handlungsspielraums außerhalb einer patriarchalen, faschistischen Logik. Streeruwitz handelt dies an einem konzertierten Bildrepertoire ab. Suzan Pitts surrealer, psychoanalytisch basierter Film Asparagus (1979) dient genauso als Folie wie Peter O’Donnells Figur der Modesty Blaise oder – klassisch in der Verhandlung von (moralischer) Gerechtigkeit und Unschuld – Leonardo da Vincis Dame mit dem Hermelin (1489/90). Doch die Bedeutung der ‚Bilder‘ bleibt ambig: So heißt es an einer Stelle, Adele habe im Kino „Platzangst“ gehabt: „Wegen des Rands. Wegen der Unendlichkeit des Rands außerhalb der Bilder. Außerhalb des Rahmens.“

Flammenwand bringt auf minutiöse Weise Politik mit individuellem Erleben zusammen, analysiert damit grundlegende gesellschaftspolitische Prozesse und zeigt determinierende Machtverhältnisse auf. Flammenwand ist auch ein (dezent) utopischer Text, denn Adele entscheidet sich am Ende, nachdem sie Opfer einer Misshandlung geworden ist, den Notruf zu wählen (ohne es noch zu tun): ein Akt der Selbstermächtigung. Und schließlich ist Flammenwand ein wichtiger Kommentar zu den politischen Entwicklungen – vor allem, aber nicht nur in Österreich.

Flammenwand.
Roman mit Anmerkungen.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2019.
416 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-10-397385-3.

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Rezension vom 03.10.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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