#Prosa

Fischfang bei aufgehender Sonne

Wolfgang Bleier

// Rezension von Birgit Schwaner

Beglückender Wachtraum der Sprache

Wann fängt man Fische? In der Dämmerung? Über Nacht? Die Fischer, las ich, fahren abends aufs Meer hinaus und kommen im Morgengrauen zurück, bevor es so hell wird, dass die Fische die Netze erkennen und ihnen ausweichen. So gesehen sind Träume wie Fische: Schlägt man die Augen auf, nimmt das Tageslicht zu und mit ihm die Eindeutigkeit der Dinge, entschlüpfen sie allzu flink dem Bewusstsein.

Fischfang bei aufgehender Sonne heißt Wolfgang Bleiers jüngstes Buch und spielt damit bereits auf diesen Schwebezustand an, auf der Schwelle zwischen Tag und Nacht – auf den Menschen übertragen: ein wachträumender Zustand, in dem sich am besten dichten lässt, Sätze wie Fische, auf deren argloses Erscheinen einer, der sie einfangen will, geduldig warten muss …
Wolfgang Bleier hat eine überbordende Fülle an, wie es im Buch heißt, „funkelnden Sätzen“ gefischt (siehe S. 9: „Ich sage mir: Schreibe in funkelnden Sätzen!“). Diese Sprachfische schillern in allen denkbaren Farben, Schattierungen, in ihren Schuppen spiegelt sich die Oberfläche der wahrgenommenen Welt und wird illuminiert, bis sie sinnlich, ergo voller Sinn und Präsenz erscheint, weil der Fischer mit Worten zaubern kann, weil auch bei diesem Fang kein Gefangenes stirbt, sondern gerettet ist und frei in der Möglichkeit, sich zu verwandeln.
Menschen, Pflanzen, Dinge, Autos, Landschaften, Himmel wie Erde, Lebendes, Totes, das schreibende Ich und seine Lektüren – alles wird in die lyrische Sprache Bleiers hineingezogen, führt in ihr ein surreales Dasein, das das eigentliche sein mag, in steter Metamorphose. Oder auch: Meta(phern)morphose – denn es sind Sprach-Bilder, die sich aneinander reihen, einander assoziativ erweitern oder ablösen, drehen und wenden und ihre poetische, d.h. nie ganz auflösbare Wahrheit behaupten, die auch darauf beruht, dass hier einer genau beobachtete: „(…) jeder Tag ist ein Rechteck, wenn ich aus dem Fenster hinausschaue.“ (S. 7). Oder: „Der Mensch hat allerlei Kälte und Winter in sich; beachtlich ist die Atemlosigkeit der Dinge.“ (S. 68). Oder, im Ton von Nietzsches „Zarathustra“: „Ein Narrenquartier ist der Kopf, und Unruheherd, nicht gerne ist der Kopf auf Erden.“ (S. 38)
Wie diese kurzen, aphorismustauglichen Zitate besteht der Text vornehmlich aus einfache(re)n Aussagesätze, oft im Präsens, öfters übernimmt das Verb „sein“ die Rolle eines Vollverbs – des Verbs, mit dem wir u.a. definieren und beschreiben, was existiert, was ist. Hierzu passt wohl, dass, wollte man das Unmögliche versuchen und zusammenfassen, was in diesem Buch geschieht, man vielleicht am ehesten auf eine grundsätzliche Eigenschaft von Kunst bzw. Literatur hinweist: im Werk eine eigene, in gewissen Aspekten „wahrere“, Welt zu erschaffen.

So ließ mich (andere mögen dieses Leser-beglückende Werk völlig anders sehen) „Fischfang bei aufgehender Sonne“ – der Titel stammt übrigens von einem 1965, im Geburtsjahr des Autors entstandenen Bild von Max Ernst – auch an eine Kosmogonie denken. Wobei ein schreibendes Ich, von dem man gleich auf der ersten Seite erfährt, mit dem beginnenden Tag seinen poetischen Schöpfungsprozess beginnt:
„Der Kadaver, die schwarzblau abgestorbene Nacht, ist die Mutter des Tages. In der Dämmerung vor dem Fenster arbeiten die Toten und sprechen kein Wort. Die Nacht ist mein Schutzraum. Der Schöpfer arbeitet, schneidet Kahlschlag und Lichtungen; die Morgensonne scheucht die Toten fort.“
Schon diese ersten Worte variieren das Thema der biblischen Genesis, das Thema unzähliger Mythen, in denen mit jedem Sonnenaufgang von neuem die Gottheit des Lichts über die der Finsternis siegt. Es geht hier allerdings nicht um Mythen als literarische Form – wie etwa in H.C. Artmanns Titel „Die Sonne ist ein grünes Ei“, der, neben anderen Literatur-Anspielungen, einmal erwähnt und als Metapher übernommen wird –, sondern eben um den poetischen Schöpfungsakt, der im Augenblick des Schreibens stattfindet, in dem Benennen/Dichten und Erkennen ineins fallen und bei dem das Alltägliche in mythische Dimensionen erweitert wird. Wobei die Dinge und Phänomene der Alltagswelt stets ein Eigenleben zu haben scheinen – und der einzige, spielerische „Schöpfer“ ist hier das schreibende Ich, das sich nicht ohne Selbstironie als „Schreibvogel“ sieht, Narr, und König über ein papiernes Reich, in das er das Weltall holt, die Meere und Sterne, Vögel und Fische, die Menschen, den Straßenverkehr usw.

Angesichts dieses den Text schreibenden, sich in den Text einschreibenden „Ichs“ ließe sich „Fischfang bei aufgehender Sonne“ aber auch als lyrisches Journal sehen – eine Folge von Aufzeichnungen, in denen als roter Faden immer wieder Fragmente einer Liebesgeschichte aufscheinen, die Erinnerung ans Finden und Verlieren der Geliebten, an Verlassenheit, Tostlosigkeit und wieder aufkeimende Hoffnung. Wobei es keine genauen Zeitangaben gibt: Alles geschieht in der Gegenwart, im Augenblick des Schreibens (noch einmal oder erstmals wirklich), und alles Beschriebene ist gleichermaßen bedeutend, gleichermaßen Teil des Daseinsrätsels, das die Sprache, die Kunst hier – in traumwacher Schau auf die Oberfläche der Wörter – gefunden hat und nicht mehr loslässt, von dem sie in wundersamen Bildern erzählt: die wechselnden Tages- und Jahreszeiten, die Wolken, Pflanzen, Vögel und Himmelskörper, die Menschen auf der Straße, während einer Zugfahrt, Häuser, Fahrzeuge, Landschaften, Baustellen, Engel, das Wetter – oder die Geliebte, die als „Königin“ überhöht wird und archetypisch „die Frau“ heißt, unfassbar und omnipräsent wie die tief berührende Liebeserfahrung.
Mit jeder Wiederholung, jeder Wiederkehr eines Motivs im Text ist dieses anders, variiert, mit einem neuen Bild verbunden, so wie kein Morgen dem anderen gleicht, jede Wolke einzigartig ist – „in den Wäldern meiner Wahrnehmung sind tausenderlei Wesen zu sehen“ (S. 21). Und, möchte man hinzufügen, in tausenderlei Gestalt, immer wieder sich wandelnd, mit anderem kombiniert, konnotiert: „Ein Vogel schwimmt durch die bitterkalt gewordene Luft mit kalten Flügeln; tiefer Winter ist im Vogel, den Vogel sperrte man zusammen mit einem Gramm Sonnenlicht in das sinistre Gefängnis“ (S. 119).
So löst ein Bild das andere, eine Metapher die andere ab; gewissermaßen ist auch die Metapher ein Instrument, auf dem der virtuose Schreibvogel spielt, um die Welt, wie er sie erlebt, in funkelnden, melodischen, farbintensiven Sätzen in Bewegung zu setzen.

Nicht zuletzt wegen des von Max Ernst entlehnten Titels könnten einer/einem bei Bleiers absolut originärer, einzigartiger Schreibweise – des „Fischfangs“ wie etwa auch der zuvor bei Klever erschienenen „Arbeitskräfte“ – die Surrealisten in den Sinn kommen, die in ihren Schreib- und Zeichenexperimenten (Stichworte: Écriture automatique, Le cadavre exquis) der seelischen Instanz des Unbewussen bzw. dem Traum mehr Raum zugestehen wollten, um die Zerissenheit der aufgeklärten Welt (und der Individuen) in der Kunst aufzuheben (zumindest ging es Breton auch darum). Für die Dauer der Lektüre dieses im Grunde in Prosaform gefassten Gedichts jedenfalls sei Lesern höchste ästhetische Befriedigung versprochen, ein phantastischer Wachtraum der Sprache, der beim Blick aus dem Buch die Wirklichkeit (vor allem auch die „Natur“) verzaubert hat, oder enttarnt: in allen Facetten ein Wunder.

Wolfgang Bleier Fischfang bei aufgehender Sonne
Prosa.
Wien: Klever, 2015.
144 S.; geb.
ISBN 978-3-902665-93-5.

Rezension vom 04.07.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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