#Sachbuch

Feinde in Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein

George C. Avery (Hg.)

// Rezension von Peter Stuiber

Wenn es zwei literarische Zeitschriften gibt, die das Kunstleben der deutschen Literatur in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg geprägt haben, dann sind es die „Fackel“ und der „Sturm“. Beide Unternehmungen weisen erstaunliche Parallelen auf: hinter ihnen stand jeweils nicht eine Herausgeber-Gruppe, sondern eine kämpferische und streitbare Einzelperson, die der Zeitschrift im Lauf der Jahre ein unverwechselbares Profil verleiht hat (Karl Kraus bzw. Herwarth Walden); beiden Zeitschriften gelang es, innerhalb kurzer Zeit die bedeutendsten Künstler ihrer Zeit zu ihrem Beiträgerkreis zu zählen; und beide griffen dabei – zumindest eine Zeitlang – teilweise auf die gleichen Autoren zurück.

Der vorliegende Briefwechsel zwischen Kraus und Walden zählt daher zu den literaturgeschichtlich bemerkenswertesten Neuerscheinungen der vergangenen Monate. Von 1909 bis 1912 dauerte die Korrespondenz; ein Großteil davon, nämlich 644 Schriftstücke, ist erhalten geblieben – eine bemerkenswerte Zahl angesichts der kurzen Zeitspanne des Austausches und ein Gradmesser für die Intensität der Beziehung zwischen dem Berliner und dem Wiener. Der Brief- (Postkarten-, Telegramm-)Wechsel begann nach einem Wien-Besuch, bei dem Walden nicht nur Peter Altenberg als Autor für seine Zeitschrift „Das Theater“ gewinnen konnte, sondern auch den Herausgeber der „Fackel“ kennenlernte. Die spontane Sympathie für die Projekte des jeweils anderen hatte wohl triftige Gründe: die Kompromisslosigkeit bei der Arbeit, der Wille zu kraftraubenden Auseinandersetzungen mit Widersachern (von feindlichen Schriftstellern bis zu fordernden Anzeigenabteilungen), die Bereitschaft, sich für die eigene Sache bis zum physischen wie psychischen Breakdown einzusetzen – all dies trifft auf Kraus wie auf Walden zu. Letzterer bekennt schon nach wenigen Wochen, Kraus für den besten deutschen Schriftsteller zu halten (S. 15) und verspricht, „keine Gelegenheit vorübergehen zu lassen, für Sie [Kraus] in Deutschland einzutreten.“ (S. 14) Ein Angebot, das Kraus nur allzu gerne in Anspruch nimmt, wird er doch von der österreichischen Presse totgeschwiegen. Es folgt die Gründung eines Berliner Büros der „Fackel“, ein kostspieliges Unternehmen, das dem Österreicher zu Publicity verhelfen soll. Ein schwieriges Unterfangen: Denn Walden hat neben seinen anderen Tätigkeiten (Herausgeber, Schriftsteller und so ganz nebenbei hochtalentierter Komponist) offenbar nicht allzu viel Zeit; die Akzeptanz der „Fackel“ leidet auch unter der Vielzahl an Feinden, die Kraus sich im Laufe seiner Tätigkeit zugelegt hatte und die in Berlin ihre Hebel gegen ihn in Bewegung setzte.

Die Schwierigkeiten der Berliner „Fackel“ hinderten Kraus nicht daran, seinerseits Herwarth Walden mit allen möglichen – auch finanziellen – Mitteln zu unterstützen. Dieser hatte sich nämlich mit dem Verleger des „Theaters“ überworfen und ging 1910 daran, eine eigene Zeitschrift auf die Beine zu stellen: eben jenen „Sturm“, der das Hauptorgan des Expressionismus in Deutschland werden sollte. Hier entspinnt sich ein Feuerwerk an Briefen, Telegrammen etc.: Tipps von Kraus in Sachen Druck und Vertrieb, Kommentare beider Seiten zu möglichen Beiträgen, Themen, Warnungen vor „Feinden“ usw. wechseln täglich von Wien nach Berlin. Walden hat seinen „Sturm“ zunächst ganz auf die Linie Loos/Kraus gebracht, letzterer kommentiert das mit Wohlwollen, bringt zunächst nur hie und da Einwände gegenüber Beiträgen, die ihm zu „impressionistisch“ schienen. Walden reagiert darauf, druckt stattdessen Autoren der „Fackel“ (Berthold Viertel, Otto Soyka, Otto Stoessl, Altenberg und etliche Beiträge von Kraus selbst). Der künstlerische Austausch erreicht seinen absoluten Höhepunkt, der Briefwechsel sprüht vor Energie. „Alles wächst. Feinde in Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein“, schreibt Walden an Kraus (S. 95).

Doch schon bald kam es – man könnte sagen: logischerweise – zwischen den beiden Einzelkämpfern zu Schwierigkeiten, die das intensive Verhältnis innerhalb weniger Monate deutlich „runterkühlen“. Kraus missfällt immer mehr die Ausrichtung des „Sturm“: Walden publizierte zuviele Expressionisten, bot auch unbedeutenden jungen Autoren ein Forum, was Kraus‘ Qualitätsanspruch nicht entsprach. Dazu kam Kraus‘ pathologische Angst vor Druckfehlern („ich gehe am Gedrucktwerden zu Grunde“; S. 309), der „Fackel“-Herausgeber wollte keine Texte mehr von sich im „Sturm“ publizieren lassen. Walden selbst reagiert oft nervös, geht in seinen Projekten unter und leidet permanent unter finanziellem Druck. Das Berliner Büro der „Fackel“ wird schließlich geschlossen, Kraus ist froh darüber, nicht mehr von Walden in Berlin vertreten zu werden. Im November 1912 kommt der Briefwechsel zum Erliegen.

Neben den bisherigen Aspekten seien hier noch zwei weitere bemerkenswerte genannt: Waldens Frau in diesen Jahren war Else Lasker-Schüler, die Kraus bewundert und die ihrerseits den „Fackel“-Herausgeber vergöttert – ein durchaus pikantes Dreiecksverhältnis; Walden war es außerdem, der Kraus dazu ermuntern sollte, erstmals aus seinen eigenen Schriften öffentlich zu lesen (Kraus hielt später bekanntlich hunderte Vorlesungen). Der vorliegende Band hält für Interessierte Unmengen an spannendem, neuem Material bereit und entwirft ein Panorama des literarischen Lebens um 1910. Kluge Kommentare des Herausgebers helfen dort weiter, wo der heutige Leser allein Probleme hätte. Ein wahres Vergnügen, darin zu lesen.

George C. Avery (Hg.) Feinde im Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein
Karl Kraus – Herwarth Walden, Briefwechsel 1909 – 1912.
Göttingen: Wallstein , 2002.
675 S.; geb.
ISBN 3-89244-613-X.

Rezension vom 24.06.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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