#Roman

Fedjas Flucht

Ditha Brickwell

// Rezension von Holger Englerth

Ein historischer Roman kann wie aus großer Höhe verfasst sein, sodass die Linien der Geschichte klar hervortreten, Ursachen, Anlässe und Wirkungen aufgezeigt werden und – wenn schon keine Erklärung – so zumindest Nachvollziehbarkeit der Ereignisse erreicht werden kann. Oder ganz anders: Im Roman wird Vergangenheit zu vergegenwärtigen gesucht, die Perspektive bleibt nahe bei den Handelnden oder Nichthandelnden, den Leidenden oder Leidzufügenden. Geschichte erscheint dann als unvorhersehbares Geschick; die Lesenden befinden sich ebenso in einer Situation der Unübersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit wie jene, über die sie lesen. Diesen Weg geht Ditha Brickwell in ihrem neuen Roman.

In einer Art Proust’schem Moment, nur nicht in so komfortabler Lage, ereilen Fedja zu Beginn des Romans auf der Überfahrt nach Amerika die Erinnerungen an das Geschehene: „Ich sehe die Küche, weiß und blau, und spüre den Wohlgeruch von Milch und Vanillezucker, von Speck und Strudel, den Duft meiner Kindheit, sagt Fedja.“
Nun erst startet der eigentliche Roman in der Vergangenheit, im März 1941 in Maribor. Das alltägliche Leben in Slowenien ist bereits zutiefst politisch durchsetzt. Die Schilderungen eines Abendmahls werden schon bald von den dort ausgetauschten Parolen, Ideologien und politischen Winkelzügen überlagert, in der Lawine von Gerüchten ist kaum auszumachen, worum es eigentlich geht. Die Perspektive ist dabei die des jungen Fedja, der alles hört, aber nichts versteht.

Mit der Mutter von Fedja baut Brickwell in der Folge eine interessante Figur auf, die in den politischen Verwerfungen und gewaltsamen Ereignissen mit List und Mut für das Wohl ihrer Familie – und den Bestand ihres Besitzes – einzutreten versucht. Leider hat sie nur zu Beginn und gegen Ende größere Auftritte; wie überhaupt den weiblichen Figuren keineswegs der Raum eingeräumt wird, den sie sich verdient hätten und der auch dem Roman gutgetan hätte. Der Vater tritt trotz seiner zeitweise exponierten politischen Funktion kaum als Handelnder in Erscheinung. Die drei Brüder von Fedja engagieren sich gegen den Willen ihrer Eltern auf unterschiedlichen Seiten im von den Deutschen besetzten Slowenien, auf Seiten der Faschisten und der Partisanen.

Der Komplexität des von ihr gewählten Themas begegnet Ditha Brickwell mit einem fast unübersehbaren Arsenal an Stilmitteln und literarischen Tönungen, die unvermittelt aufeinanderfolgen. Ansätze zu schmucklosem Realismus werden durch Lyrismen oder expressive Bilderstürme wieder aufgehoben. Hier hätte vielleicht auch das Lektorat etwas mehr tun können (auch was die Satzzeichensetzung und Rechtschreibung angeht: „photografiert“). In den langen Dialogen sind die Sprecher und Sprecherinnen nicht immer auseinanderzuhalten, bemerkenswerterweise sogar dann, wenn sie unterschiedlichen politischen Richtungen angehören und reden, als würden sie aus Zeitungsartikeln oder Pamphleten vorlesen.
Auf inhaltlicher Ebene setzt sich die Unübersichtlichkeit fort. Fallweise sind historische Ereignisse wie die Vernichtung der in Grad Turjak (Schloss Auersperg) zusammengezogenen antikommunistischen Dorfwachen durch die Partisanen erkennbar, die unterschiedlichsten politischen und militärischen Personalien und Verbände werden auch benannt, aber der Fokus der Erzählung verschiebt sich jeweils viel zu schnell auf die Schilderungen von alltäglichen Details, allgemeine Reflexionen oder wieder eine neue Nebenhandlung. Dadurch wird letztlich das Bild der Undurchdringlichkeit balkanischer Konflikte perpetuiert.

Zu größerer Klarheit gelangt der Roman in seinem vierten und letzten Kapitel: Gegen Ende des Krieges finden sich die mit den Deutschen kollaborierenden Domobranzen, so die katholischen slowenischen Heimwehren, in Osttirol wieder, unter ihnen auch Fedja mit Teilen seiner Familie. Die britischen Besatzer übergaben im Mai/Juni 1945 etwa 10.000 Angehörige dieser Truppen an die Jugoslawische Volksarmee. Ein großer Teil von ihnen wurde in Jugoslawien hingerichtet. Der Mutter von Fedja gelingt es, zwei ihrer Söhne vor diesem Schicksal zu retten, indem sie sie aus dem Todeszug unter den Augen der Briten herausholt.
Dass die Aufmerksamkeit von Brickwell so stark auf den mit dem Faschismus kollaborierenden Teil der slowenischen Bevölkerung gerichtet ist, erklärt sie in einem knappen Nachwort mit dem „Menschenrecht auf eine individuelle Schuldzuweisung“. Leider löst der Roman dieses Vorhaben nicht wirklich ein, wird doch vor allem das Leid, das diesem Teil der Bevölkerung geschah, prominent geschildert. Der Roman spiegelt in dieser Hinsicht die heute noch schwierige historische Aufarbeitung in Slowenien selbst.

Ditha Brickwell Fedjas Flucht
Roman.
Klagenfurt/Celovec: Drava, 2018.
422 S.; geb.
ISBN 978-3-85435-868-8.

Rezension vom 19.12.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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