#Sachbuch

Faust und Geist

Wolfgang Paterno

// Rezension von Peter C. Pohl

Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen.

Der Topos Boxen ist in der Literaturgeschichtsschreibung zur Zwischenkriegszeit fest etabliert. Insbesondere die zur Höhenkammliteratur gehörigen Texte, wie Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930-32), sind auf deren Box-Reflexionen hin intensiv beforscht worden.

Boxen ist in den Augen Musils und vieler seiner Zeitgenossen mehr als ein Kampfsport, der die Ausübung primitiver Gewalt verlangt und die Sensationsgelüste einer sich unverhohlen am Schmerz anderer berauschenden Menge befriedigt. Auch sind Boxkämpfe mehr als Ereignisse, die, von Fernsehen und Rundfunk bereits früh übertragen, als Beleg für die spektakelaffine Medienkultur der Moderne fungieren; Boxen ist nicht nur Chiffre fordistischer Körperperfektionierung oder soziale Aufstiegschance proletarischer Haudraufe. Vielmehr hat Boxen im Hinblick auf die Medien- und Subjekttechniken sowie die kulturellen Diskurse der Zwischenkriegszeit den Rang einer Drehscheibe, über die distinkte Aspekte wie Rausch und Rationalisierung, Atavismus und Disziplinierung, Körper, Geist und Seele zueinander gelangen und sich an der Figur des Boxers darstellen, thematisieren und problematisieren lassen.

Es nimmt daher nicht wunder, dass sich anerkannte Autoren und Autorinnen, wie Marieluise Fleißer, Ödön von Horvárth oder Joseph Roth, dem Thema widmen. Wie Kai Marcel Siecks in seiner Studie Stadionromanzen. Der Sportroman der Weimarer Republik zeigt, gibt es zudem zahlreiche trivialliterarische Einlassungen auf kombattante Sportaktivitäten. Boxen als Teil der Sportbegeisterung wird in der Forschung meist als Gegenstand autoren- oder genrespezifischer Strategien (so in den Grundlagenwerken von Anne Fleig zu Robert Musil und Hanns-Marcus Müller zum Essay) verstanden oder als Epochen-Spezifikum der Weimarer Republik analysiert. Was fehlt, ist eine die unterschiedlichen Niveaustufen der literarischen Bearbeitung des Boxens und seiner ästhetisch-kulturellen Reflexion systematisch erfassende Studie. Wolfgang Paternos voluminöses Buch Faust und Geist. Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen will diesen Umstand beheben. Es bearbeitet immenses Material und liefert kluge Einsichten. Im Gegenzug verlangt es von seinen LeserInnen aber auch geistiges Durchhaltevermögen und vermag nicht überall an den Forschungsstand anzuschließen.

Der studierte Germanist, Philosoph und Publizist Wolfgang Paterno, der seit 2005 als Kulturredakteur tätig ist, entscheidet sich für eine an Michel Foucault orientierte Mischung von Diskurs- und Dispositivanalyse, da er das Boxen als „Kupplungsglied von Diskursen und Praktiken“ (S. 33) auffasst. Paterno entwickelt zunächst in „reihend-deskriptiver Darstellung“ eine Reihe von „Interdependenzen und flüchtigen Transfers von Sinnzusammenhängen aus einem Diskurs in den anderen“ (beide S. 55); konkret geht es in diesem materialgesättigten Kapitel, das die Textanalysen präludiert, um Aspekte wie die Sakralisierung und Ökonomisierung des Sports sowie die „Masse-, Licht- und Lärmdiskurse“ (S. 54) der Zwischenkriegszeit. Im Anschluss wendet er sich den vier Korpora: der Trivialliteratur, der elaborierten Literatur, den Texten Brechts und Musils zu. In seiner Interpretation der Texte „von Hannes Bork, Horst Hellwig, Felix Hollaender, Ernst Klein, W. K. von Nohara, Werner Scheff, Max Schievelkamp, Johannes Sigleur, Adolf Uzarski, Victor Witte, Ludwig von Wohl, Olga Wohlbrück, Vicki Baum und Paul Gurk“ (S. 393) unterstreicht er, dass die belletristischen Adaptionen des Pugilismus affirmativ blieben. Die kritiklose Aufnahme von „Spektakel, Starkult und Sporteuphorie“ (S. 120) mache die Trivialliteratur zu einem „Durchlauferhitzer“ (ebd.) für kulturelle Stereotype. Alles verkomme zur glatten Oberfläche. Insbesondere die Elemente der Sakralisierung, des Nationalismus und Militarismus fänden sich ausgeschlachtet. Das Ziel der Texte sei es, „Kapitelle an der mit Pagodentürmchen dekorierten Ruhmeshalle des Boxens anzubringen: Boxen wird mit Aureolen ausgeschmückt.“ (S. 159)

Die boxaffine Literatur „von Erich Kästner, Joseph Roth, Franz Blei, Ernst Krenek, Klabund, Anton Kuh und Walter Serner“ (S. 202) verfolge hingegen andere Absichten. Ihre Aufgabe sei es, „die Kapillar- und Setzrisse am boxliterarischen Triumphbau hochliterarisch zu registrieren.“ (S. 159) Die elaborierten Texte demontierten die Mythisierungen der Trivialliteratur, indem sie das Boxen „an kulturelle, soziale und ökonomische Diskurs- und Praxisfelder“ (S. 161) anschlössen. Die Ironisierung der „Gigantomanie des Boxens“ (S. 169) und die Wahl von Genres wie Satire, Märchen und Groteske gelten Paterno als Belege für seine Vermutung, dass die Texte des zweiten Korpus mit literarischen Verfahren die glatte Oberfläche pugilistischer Euphorie fragmentierten. Sie persiflierten die niederen ökonomischen Absichten des Sportgeschäfts, desavouierten die inhumanen Kehrseiten des militärischen Trainingsdrills und demaskierten die Hohlheit der frenetischen Sportlerverehrung. Keineswegs würden die von der Kolportageliteratur ventilierten vitalistischen, virilistischen und militaristischen Klischees ungebrochen wiedergegeben. Es gehe hier eher um die ideologiekritische Hinterfragung der Sinnmuster und die Karikierung der brutalen und grobschlächtigen Akteure – auf wie neben dem Ring. Und tatsächlich: Joseph Roth in Der Bizeps auf dem Katheder (1924) oder Ernst Krenek in seiner burlesken Operette Schwergewicht oder Die Ehre der Nation (1928) dekonstruieren die Mythen vom Gentleman-Boxer und Körpergenie. Die Art und Weise, wie die Texte dies bewerkstelligen, ist amüsant und immer noch lesenswert. Und Paternos Fazit zu diesem Korpus – „Die Autoren zeigen sich vom Boxen irritiert – und eröffnen dem Sport damit neue diskursive Denk- und Schreibräume“ (S. 236) – ist unbedingt zuzustimmen.

Handelt es sich bei den Werken der elaborierten Literatur um punktuelle Einlassungen auf das Boxthema, ist der Topos Faustkampf in Bertolt Brechts Œuvre eine zentrale werkästhetische Komponente. In Das Renommee. Ein Boxerroman (1926), Das Elefantenkalb (1927), Das wirkliche Leben des Jakob Gehherda (1936/37), aber auch in Gedichten und Essays widmet sich Brecht dem Boxen, wobei Paterno umsichtig rekonstruiert, wie Brecht „dem Sport ein erweitertes Inhalts- und Praxisinventar“ (S. 303) erschließt. Brecht integriert konträr Scheinendes, den Atavismus des Kampfes und die Performativität und Medialität des Sports, und erkennt im Boxen eine Signatur des Zeitalters und im Boxring dessen Bühne. Die an Brechts Werk herausgearbeitete Erweiterung des Diskurs- und Praxisraums sieht Paterno dann in den kontingenzaffinen Texten von Robert Musil vollendet. Sowohl die Sport-Essays als auch die Box-Reflexionen im epochalen Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften stellen temporäre Synthesen disparater Aspekte dar, in denen Musil nicht zuletzt den literarischen Möglichkeitsraum (in) der Moderne sondiert. Musil forciert dergestalt den schon bei Brecht zu bemerkenden Drift weg von Stereotypen in Richtung anderer Diskurse und Praktiken, wie „Performanz und Motorik; Physiologie und Psychotechnik; Medialität und Kulturkritik; Trainingslehre und Körpertechnisierung; Ästhetik und Ästhetizismus; Emotionspsychologie und Ausdrucksgebärde; Ratio und Sinnlichkeit.“ (S. 400) Was dem Boxen abgewonnen werden kann, korreliert mit Ulrichs essayistischer Verhaltenslehre, die als komplexitätsadäquate Umgangsweise mit der Moderne erscheint: „Ulrich ist wie die Boxerfigur selbst aus dem Schlüsselfigurenarsenal der Moderne nicht mehr wegzudenken.“ (S. 401)

An der Studie beeindrucken die immense Belesenheit sowie die pointierten Formulierungen. Auch der umfangreiche, mittig abgedruckte Bildteil, der unter anderem Fritz Langs privaten Boxring zeigt, vermag zu gefallen. Dennoch sollen einige Monita nicht unerwähnt bleiben. Paterno versucht anhand des durch die Texte möglichen Reflexionsgewinns die Güte literarischer Boxdarstellungen zu belegen. Die volle literatur-, sozial-, kultur- und mediengeschichtliche Relevanz des Boxens scheint dabei erst in dessen Verarbeitung in avancierten modernistischen Schreibweisen ablesbar. Um diese These zu entwickeln, sondert Paterno nicht nur seine Korpora nach ihrer vermeintlichen literarischen Qualität (und ohne Abwägung ihrer generischen Spezifika). Vielmehr entwickelt er auch seine Theorie aus dem methodischen Umgang mit den Quellen, insofern das analytische Moment sukzessive von Kapitel zu Kapitel zunimmt. Der Auftakt im Bereich der Kolportage- und Trivialliteratur ist zumeist in Parataxen geschrieben; Paterno gibt dort wie in der reihend-deskriptiven Darstellung zuvor Diskurspartikel in Rohform wieder. Teilweise hageln die oft unabhängig von ihrem Genre genutzten Zitate jedoch derart auf einen ein, dass man den Überblick verliert. Bei einer Schlagzahl von 15 und mehr Verweisen pro Seite droht der K.O. Oder anders gesagt: Lesefreundlich ist der Einstieg nicht. Dagegen lassen sich die Abschnitte zur elaborierten und zur ausführlich zitierten Höhenkammliteratur Brechts und Musils besser lesen. Diese Zusammenspiel aus Methode und Theorie, bei der die Analyseintensität mit der vermeintlichen ästhetische Qualität korreliert wird, ist nicht unproblematisch. Einige Entscheidungen, wie die Zuordnung der populärkulturell hintersinnigen Texte Vicki Baums zur Trivialliteratur (s.o.), sind strittig. Überdies lässt der Titel der Studie, zwischen den Weltkriegen, zwar offen, ob die Studie sich allein auf die Weimarer Republik bezieht; oft wird aber vereinseitigend von der „großstädtischen Weimarer Kultur“ (S. 390) oder der „Weimarer Sportfieberkurve“ (ebd.) gesprochen. Berlin erscheint so als Zentrum der Moderne – und dies obgleich sich die Moderne als Prozess gerade durch ihr Ortsungebundenheit auszeichnet. Die Frage nach dem Urbanen und dem Ruralen umtanzt Paterno aber ebenso wie die nach der High-Low- oder Genre-Differenz.

Dass bei dem gewählten Zugang, der allgemeiner den Zusammenhang von Sport mit anderen Diskursen und modernen Subjekttechniken in den Blick nimmt, das Thema Boxen von anderen Sportarten nicht immer sauber zu trennen ist, ist nachvollziehbar. Auch die Ringer-Märchen von Ödön von Horvárth halten für die Argumentation her. Allein: Im Hinblick auf Zweikampfgeschichten im Ring gibt es einen kleinen, aber doch wichtigen Ringer-Roman: Am Rande der Nacht (1934) von Friedo Lampe, der Paternos Aufmerksamkeit aus zwei Gründen verdient hätte: Lampe nutzt modernistische Schreibverfahren in einer hier freilich nicht zu rekonstruierenden, jedoch äußerst elaborierten Weise, in der neue Diskursbereiche erzählerisch mit dem Zweikampf als zentralem Ereignis verbunden werden. Die Gattungsfrage hätte hier wie beim MoE gestellt werden können. Außerdem amalgamiert Lampe das Motiv des Zweikampfes mit einem für die Weimarer Republik zentralen Diskurs, der vom Sport – zumal dem Boxen – kaum fern zu halten ist: dem Geschlechterdiskurs, dessen homoerotische und ambivalenten Aspekte Lampe aufgreift, indem er den Kampf als Attraktivitätsgeschehen und sexuellen Übergriff modelliert. Über die Geschlechterdiskurse der Weimarer Zeit finden sich jedoch keine relevanten Reflexionen in Paternos Buch, abgesehen von allgemeinen Hinweisen auf Virilität und Männlichkeit. Einschlägige Studien, wie Ernst Hanischs Buch über die Männlichkeiten oder die zahlreichen Studien zur Männlichkeit im MoE, wären hier ein guter Ausgangspunkt gewesen. In der Summe kann man Paternos anregende Studie trotz dieser Aspekte dennoch sowohl für die Forschung zu den genannten AutorInnen als auch zum Sport- und Subjektdiskurs der Zwischenkriegszeit empfehlen.

Wolfgang Paterno Faust und Geist
Sachbuch.
Wien: Böhlau, 2018.
444 S.; geb.
ISBN 978-3-205-20545-6.

Rezension vom 06.06.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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