#Prosa

Farben der Zukunft

Stanislav Struhar

// Rezension von Helmuth Schönauer

Neben der Aufgabe, halbwegs brauchbare Informationen zum Überleben zu vermitteln, trägt die Sprache auch elementar zum Lebensgefühl bei. Die Sprache lässt sich dabei wie die Farbe in einem Bild verwenden, um Stimmungen, Nuancen oder Konturen zu verstärken oder abzumildern.

Stanislav Struhar setzt sich mit seinen Erzählungen und Romanen immer einem besonderen Sprachlicht aus. Seine Figuren sprechen alle erdenklichen Nuancen, die mal als kompletter Sprachkorpus auftreten wie das Tschechische, oder als diffuses Klangbild wie das Wienerische. Die Helden sind oft Migranten, Touristen oder pure Nachfahren, die dafür sorgen, dass überall ein Sprachgemisch auftritt, das einen eigenen Klang entwickelt. Denn das Tschechische klingt in der Wiener Umgebung anders als in Prag, auch wenn es von den gleichen Personen gesprochen wird. Während man in ein anders Land reist, ändert sich nämlich die Farbe einer Sprache, die man im Gepäck hat.
Der zweite Teil seiner geplanten Farben-Trilogie trägt den optimistischen Titel „Farben der Zukunft“. (Der erste Teil heißt genauso kompakt „Farben der Vergangenheit“. Der dritte Teil wird Farben der Gegenwart heißen.)
Die Zukunft wird in drei Episoden behutsam aufgemacht mit der Überlegung, wie es zuversichtlich weitergehen könnte, wenn man die Gegenwart sorgsam gestaltet. Die Helden gehen mit neugierigen Augen durch ihr zugeteiltes Biotop und entdecken überall Farbenfrohsinn, Gesprenkeltes und Zutrauliches, ob es sich nun um eine Freundschaft handelt, eine Sehenswürdigkeit, oder einfach um die nächstgelegene Vegetation, die Tag für Tag an den Sinnesorganen andockt.
In der ersten Episode, die „Reinheit der Farben“ (7), kellnern Arno und Ayana in prekären Verhältnissen in Wien. Als man Ayana aus diffusen Gründen kündigt, gibt auch Arno seinen Job auf und beschließt, später einmal zu studieren und jetzt gleich mit Ayana eine Freundschaft zu besiegeln. Beide tasten sich mit ähnlich vagen Fragen aneinander heran. „Bist du ein echter Wiener? – Wer ist schon ein echter Wiener?“ (18) So nebenher erkunden sie den Dom, den Donaukanal und die Vorstadt, denn jetzt haben sie Zeit, sich jenseits des Touristenstroms mit sich und der Stadt zu beschäftigen. Bald werden sie ein echtes Paar mit stillem Sex und allem Drum-und-dran, aber beide trauen dem Frieden nicht, der in dieser Harmonie liegt. Ayana nämlich ist als äthiopisches Kind in Wien groß geworden und noch dazu adoptiert, ihr Vater auf dem Weg zur Arbeit ums Leben gekommen. Jetzt hängen beide seltsam bodenlos aneinander.
Die schönsten Farben des Zusammenlebens bringen freilich nichts, wenn sie nur auf die Gegenwart hin ausgerichtet sind. Die beiden beschließen also, sich so etwas wie ein Paradies zu erarbeiten. Und was könnte besser als Paradies geeignet sein als eine Buchhandlung? So übernehmen sie eine stillgelegte Buchhandlung und richten jedes Regal einzeln ein, mit jener „Reinheit der Farben“, wie diese nur in Büchern vorkommt.
„All die schönen Farben“ (48) ist die zweite Erzählung überschrieben. Darin besucht der Enkel Martin aus Prag seine Großmutter in Wien. Diese lebt von den Wienern abgeschirmt wie in einer Enklave. „Es ist ja nur eine kleine Sackgasse“, fasst sie grandios ihr Schicksal zusammen. (49) Während der Besuche wird viel von der vergangenen Zeit geredet, als Großvater nach Wien emigriert und letztlich immer der Tscheche geblieben ist, auch wenn er deutsch geredet hat. So ist er allmählich ins Zeichnen gekommen, denn in den Bildern hört man keinen Akzent. Durch das zusammengeknüpfte Europa sind mittlerweile auch die Städte zusammengewachsen, und ab und zu ist die Zukunft in Prag größer als in Wien. Kein Wunder, dass die dritte Generation wieder nach Prag geht, damit sich der Kreis der Familie schließt.
„Die Stille des alten Schattens“ (79) nennt sich jene wundersame Episode, worin Michaela noch nicht einmal die Vorhänge in der neuen Wohnung aufgehängt hat, da kommen schon die Nachbarn und wollen wissen, was sie da spricht. Sie haben nämlich unverständliche Worte beim Telefonieren mitgehört. Das ist Tschechisch, sagt die Heldin, und jetzt ist alles klar. Allmählich können die Vorurteile aufgebrochen werden, ein Nachbar wirft sogar verstohlen seine Nazipublikationen weg, weil die Sprachvielfalt doch nicht so schlimm ist, wenn sie im echten Leben angewandt wird.
In einer Sternstunde der Sprachenverschmelzung wird sogar ein tschechisches Kinderbuch ausgepackt. Das angedeutete Kompliment freilich geht wieder daneben: „Tschechisch passt besser zu dir!“ Die Heldin stutzt, so hat sie es noch nie gesehen, dass man Sprache auswählen und umhängen kann wie einen Schal.
Stanislav Struhar gibt in seiner solitären, melancholisch-optimistischen Art allen Helden Halt, die in den Klusen der diversen Sprach- und Kulturgemeinschaften tageweise verloren gehen. Er leidet unter dieser kindlichen Heimatlosigkeit, die entsteht, sobald man eine zweite Sprache lernt. Die Muttersprache vergisst man nie, sagt einmal die Großmutter. Und die Heimat gibt es doch, sie liegt genau auf jenen Brücken, die zwischen den Sprachufern aufgebaut sind. – Jetzt führen die Farben des Alltags tatsächlich in die Zukunft.

Stanislav Struhar Farben der Zukunft
Erzählungen.
Mit einem Nachwort von Ralf Rother.
Klagenfurt: Wieser, 2021.
141 S.; geb.
ISBN 978-3-99029-448-3.

Rezension vom 22.03.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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