#Prosa

Farben der Gegenwart

Stanislav Struhar

// Rezension von Simon Leitner

Was passiert, wenn man die Heimat verlässt? Wie viel von dem, was man mitnehmen möchte, gibt man dadurch unweigerlich auf? Und wie viel von dem, was man vielleicht hinter sich zu bringen versucht, kann man überhaupt zurücklassen? Ist es möglich, an einem fremden Ort ein neues Leben zu finden, langfristig Wurzeln zu schlagen? Dies sind einige der zentralen Fragen, die Stanislav Struhars Farben der Gegenwart bei der Lektüre aufwirft. Erörtert werden sie in insgesamt drei Erzählungen, die sich oftmals nur in Nuancen voneinander unterscheiden und Variationen desselben Grundthemas sind, nämlich der Frage, was Heimat bedeutet.

Vieles davon gründet, wie man im Nachwort des Bandes erfährt, in der Biografie Struhars, der 1988 mit seiner Frau als politisch Verfolgter aus der damaligen Tschechoslowakei nach Österreich geflohen ist, hier Asyl erhalten hat und mittlerweile (auch) in deutscher Sprache publiziert. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht stellt „All die geliebten Farben“ dar, die dritte Geschichte des Buchs, die ursprünglich bereits in den 1990er Jahren auf Tschechisch verfasst und schließlich von Struhar und seinem Sohn ins Deutsche übertragen wurde. Schauplatz dieser Erzählung ist Wien, wobei die Hauptfiguren dem Künstlermilieu entstammen. Im Mittelpunkt stehen Bastian, ein Fotograf, der eben von einer Ausstellung im Ausland nach Österreich zurückgekehrt ist, und Xavier, fast ein Doppelgänger, dessen Lebens- und insbesondere Familienverhältnisse sich jedoch in einigen Belangen gravierend von denen Bastians unterscheiden.

Es handelt sich bei dieser Geschichte, die auf nur wenigen Seiten einen kurzen Ausschnitt aus dem Leben der Protagonisten preisgibt, um die erste Prosa des Autors, und vielleicht ist das mit ein Grund, weshalb sie im Vergleich zu den restlichen Erzählungen in Farben der Gegenwart etwas aus der Reihe fällt. Denn obwohl sie nicht ohne Reiz ist, wirkt sie eine Spur unausgewogener als die beiden ihr vorangestellten Texte, weniger ausgefeilt, mehr wie eine Art Vorstudie zu dem, was Jahre später noch folgen sollte. Etwa die erste Erzählung des Bandes, „Die vertrauten Farben der Fremde“, eine Liebesgeschichte, die in Marseille spielt. Ebendort trifft Florian, der eine Zeitlang in der Wohnung seiner auf Urlaub weilenden Tante unterkommt, zufällig (oder eben nicht) auf Chantal, eine Freundin aus Kindheits- bzw. im französischen Süden verbrachten Sommertagen. Ganz langsam nähern sich die beiden einander (wieder) an, bis Florian beschließt, seiner Heimat Wien endgültig den Rücken zu kehren und bei Chantal einzuziehen.

Was die Handlung betrifft, war’s das im Grunde auch schon, alles Weitere, alles außerhalb dieser (wieder)aufkeimenden Liebe wird nur am Rande, wie nebenbei erwähnt – etwa, dass Florians Tante ebenfalls ihr Glück gefunden zu haben scheint und sein Vater während seines Aufenthalts in Frankreich verstorben ist. Auch manch andere Aspekte werden derart diskret behandelt, dass man sie fast übersehen könnte – beispielsweise die soziale Kluft zwischen Florian und Chantal, die zwar nicht explizit erwähnt wird, jedoch durch bestimmte Aussagen und Anspielungen zutage tritt. So äußert Chantal gegenüber Florian einmal, dass sie von solch einem Badezimmer, wie es sich in der Wohnung seiner Tante befindet, nur träumen könne, und Chantals Mutter wiederum meint in einem Gespräch, „sie könne sich nicht mehr daran erinnern, wann sie zuletzt auf Urlaub im Ausland gewesen sei. Aber bald werde sie es sich leisten können, werde eine Urlaubsreise buchen dürfen, sagte sie und erzählte über ihren neuen Job, den sie in einer Konditorei gefunden hatte.“

Diese in der Regel sehr subtil eingewobenen Stränge finden sich auch in „Die Leichtigkeit der Farben“, der zweiten und längsten Erzählung des Bandes, die so einiges mit ihrer Vorgängerin teilt: Auch hier ist man Zeuge einer sich langsam entwickelnden Liebesgeschichte, auch hier gibt es mit Adam jemanden, der seine Heimat verlassen hat, um seinem Leben eine neue Wendung zu geben, auch hier ereignet sich ein Todesfall, und auch hier werden Fragen nach sozialer (Un)Gerechtigkeit und der (Un)Möglichkeit, in einem fremden Land Wurzeln zu schlagen, gestellt. Dabei wird Struhar in dieser Geschichte aber deutlich direkter, wenn er etwa seine Figuren, von denen viele einen Migrationshintergrund aufweisen, diskutieren lässt, was Heimat und das Verlassen derselben bedeutet. An einer Stelle heißt es da beispielsweise: „Jeder, der ausgewandert ist, hat mal darüber nachgedacht, nach Hause zurückzukehren.“

Was allen drei Geschichten von Farben der Gegenwart – neben der Frage nach der eigenen Herkunft – gemein ist: Sie leben weniger von ihrer Handlung als vielmehr von den eingefangenen Stimmungen. Gerade „Die vertrauten Farben der Fremde“ mit ihren Geräuschen und Gerüchen und Gestalten in den Gassen, dem gleißenden Licht und natürlich den Farben ist in dieser Hinsicht besonders gelungen, man fühlt sich direkt, als wäre man in den Straßen Marseilles. Doch auch die anderen beiden, in Wien spielenden Erzählungen bestechen insbesondere durch ihre leicht entrückte, beinahe schon träumerisch anmutende Atmosphäre. Und alle drei zeigen eines: dass Heimat nicht unbedingt etwas mit willkürlich gezogenen Ländergrenzen zu tun haben muss, sondern vielmehr von den Menschen abhängt, mit denen man sich umgibt.

Stanislav Struhar Farben der Gegenwart
Erzählungen.
Klagenfurt: Wieser, 2022.
160 S.; geb.
ISBN 978-3-99029-526-7.

Rezension vom 25.04.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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