#Roman

Fanny oder Das weiße Land

Beatrix Kramlovsky

// Rezension von Beatrice Simonsen

Sibirien galt lange Zeit praktisch als Synonym für die zahllosen Gefangenenlager Russlands und ebenso für Millionen von Toten oder Vermissten. Beatrix Kramlovsky widmet ihren Roman – der auf dem Typoskript eines Wiener K.u.K. Offiziers beruht – den „Liebenden“ und denen, „die noch nicht nach Hause gefunden haben“.

Im Jahr 1917 erfreuen sich die österreichischen Offiziere im ostsibirischen Chabarowsk an der chinesischen Grenze zwar einer korrekten Behandlung gemäß ihres Status, doch nagt der dritte Winter in Gefangenschaft bereits heftig an ihrem physischen und psychischen Durchhaltevermögen. Immer stärker schiebt sich der Gedanke an Flucht in den Vordergrund. Im Zentrum der Romanhandlung steht Karl Findeisen, ein Berufsoffizier wider Willen, der den Eltern zuliebe auf eine Künstlerlaufbahn verzichtete. Knapp werden die prekären Lebensbedingungen der kaiserlichen Armeeangehörigen skizziert, aus denen sich erschließt, warum der nicht mehr ganz junge Mann seine Geliebte Fanny nicht heiraten konnte oder wollte. Karl steht unter vielen Sachzwängen, die er später regeln möchte … Aber später bricht der Krieg aus und alles was ihm nun von Fanny bleibt, sind ihre Briefe.

Diesen Liebesbriefen von Fanny an Karl gibt Beatrix Kramlovsky einen besonderen Stellenwert, da sie die Abwesenheit des Weiblichen im männlich dominierten Kriegsgeschehen hervorstreichen. Die Soldaten konzentrieren ihre ganze Sehnsuchtsenergie auf die Feldpostbriefe, die für sie neben den überlebensnotwendigen Lebensmittelpaketen und Kleiderspenden einen wichtigen emotionalen Anker bedeuten. Die Autorin flicht außerdem zwei historische Persönlichkeiten ins Geschehen ein, deren Taten sie als „effektive Hilfe“ von Einzelpersonen würdigt: die Krankenschwester Elsa Brandström, die mutig Rot-Kreuz-Konvois quer durch Sibirien dirigiert, und Elsa von Hanneken, die erfindungsreich den Postverkehr für die Gefangenen um die halbe Weltkugel ermöglichte. Unglaublicherweise funktionierte auch die bürokratische Verwaltung der Hilfsorganisationen, sodass Karls Bruder Viktor wunschgemäß im selben Lager wie er einquartiert wurde.

Im Frühjahr 1917 treten also sechs Männer – der ernsthafte Karl, der leichtlebigere Viktor, der Musiker Ludwig, der Russisch sprechende Josef, der psychisch labile Imre und Karls bester Freund, der rangälteste umsichtige Eduard – ihre Flucht aus Chabarowsk kurz vor der Eisschmelze über den zugefrorenen Fluss Amur an. Es lohnt, sich den Ort auf einer Landkarte zu vergegenwärtigen, um das ganze Ausmaß der Unternehmens zu erfassen. (Die Abbildung des Fluchtwegs auf einer Landkarte im Buch wäre für all jene, die mit der Geographie des russischen Kontinents wenig vertraut sind, passend gewesen.) Strategisch wohl überlegt, aber auch durch abenteuerliche Glücksfälle begünstigt, gelingt es den Freunden, deren oberste Devise „Zusammenbleiben“ ist, dem „weißen Land“ Kilometer um Kilometer mit dem Zug Richtung Westen abzuringen. Im spannenden Wechsel zwischen den politischen Umwälzungen der Zeit, eindringlichen Landschaftsbeschreibungen – die der Autorin, die auch Malerin ist, besonders gelingen – und atmosphärischen Schilderungen der durchreisten Städte Sibiriens bleiben wir den Kameraden auf den Fersen. Auf ihren Stationen in Irkutsk, in der Weite der Steppe bei Omsk und schließlich in Petrograd rücken sie ihrem Ziel Europa näher. Hatten sie aber bei ihrer Flucht aus Chabarowsk noch davon geträumt, im Sommer in Wien anzukommen, werden sie Winter für Winter eines Besseren belehrt. Erst im Frühling 1921 erreichen sie nach einer Ost-West-Durchquerung des russischen Kontinents von beinahe 10.000 Kilometern die rettende Grenze nach Estland.

in diesen vier Jahren erleben die Männer hautnah den politischen Umbruch in Russland: die Erschießung der Zarenfamilie, den Bürgerkrieg und die Geburtswehen des Kommunismus. Eingeschlossen in das hermetisch abgeschlossene System der Gefangenenlager bleibt den Flüchtlingen aber nur die Mundpropaganda als Informationsquelle. Immer gilt es, Schlupflöcher im System zu nützen und mutig zu entscheiden. Über weite Strecken hilft den Kameraden ihr künstlerisches und handwerkliches Geschick, sich aus schier auswegslosen Situationen zu retten. Gerade diese „Prämisse, dass brotlose Kunst nicht nur eines, sondern viele Leben retten konnte“ (Dank, S. 299) hat die Autorin dazu bewogen, sich der Geschichte anzunehmen. Tatsächlich gelang es den Offizieren in allen Lagern Werkstätten aufzubauen, in denen sie Holzspielzeug, Theaterkulissen, Postkarten und andere künstlerische Erzeugnisse produzierten. Der Verkauf der Produkte stellte für die jeweiligen Kommandanten eine willkommene Einnahmequelle dar, die neben der Erfüllung persönlicher Wünsche erheblich zur Verbesserung der Lagerbedingungen beitrug.

Beatrix Kramlovsky findet für ihren Roman das perfekte Gleichgewicht zwischen Realität und Fiktion: Belegt sind der zeitliche Rahmen, die Fluchtstrecke und örtliche Gegebenheiten, frei erfunden ist dagegen die Charakterzeichnung der zum Teil fiktiven Protagonisten. Das Ergebnis ist ein exzellent recherchiertes historisches Zeugnis einerseits und eine fesselnde Erzählung andererseits, so dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. Fein gezeichnet sind die poetischen Bilder, detailgetreu die Beschreibung der politischen Hintergrunds, nachfühlbar die Sehnsucht, die Angst und die Hoffnung. Mag sein, dass die Autorin den Soldaten des Ersten Weltkriegs zu viel offen gelebte Trauer und Zärtlichkeit zugeschrieben hat. Mag sein, dass sie uns manche Unmoral und Grausamkeit unterschlagen hat. Aber wollen wir es so annehmen, wie Beatrix Kramlovsky es erzählt, weil es die Hoffnung leben lässt, dass der Mensch sich mit ethisch korrektem Verhalten aus der Hölle der Kriegs retten kann.

Beatrix Kramlovsky Fanny oder Das weiße Land
Roman.
München: hanserblau, 2020.
272 S.; geb.
ISBN 978-3-446-26797-8.

Rezension vom 18.11.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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