#Roman

Familienfest

Anna Mitgutsch

// Rezension von Eva Magin-Pelich

Anna Mitgutschs Roman Familienfest handelt von einer jüdischen Familie in Boston, USA, und erzählt von den Schicksalen der Familienmitglieder. Die einzelnen Geschichten sind Exempel einer europäischen Geschichte, verschmelzen zur Familiengeschichte und sind schließlich ein Plädoyer für „oral history“, die mündlich überlieferte Geschichte.

Edna Leondouris-Schatz weiß um die Bedeutung von erzählter Geschichte: Nur Erinnerung kann das Vergessen aufhalten, nur Erinnerung erhält eine Familie am Leben. Erinnert werden aber muss aktiv, im Gespräch mit anderen, mit dem Erzählen der Geschichten. Edna weiß auch, die jüngere Generation zeigt kein größeres Interesse an der erzählten Geschichte. Sie wissen nicht mehr um die eigentliche Bedeutung von Familie, um das Zusammengehörigkeitsgefühl, aller Diskrepanzen zum Trotz.

Doch Edna gibt nicht auf und erzählt bei allen sich bietenden Gelegenheiten aus ihrem reichen Fundus der Familiengeschichten. Ideal hierfür sind die religiösen Feste, an denen die Mitglieder der Einwandererfamilie zum Familienfest zusammenkommen, hier entgehen sie Edna nicht.

Erzählt wird aber nicht nur aus der Vergangenheit der 100jährigen Familiengeschichte, der Roman macht uns auch mit dem Leben zeitgenössischer Familienmitglieder vertraut. Wir lernen drei Generationen kennen und bekommen anhand dieser Menschen Familienleben – jüdisches Familienleben – gezeigt.

Edna ist dabei das Bindeglied. Mit ihr beginnt der Roman und mit ihr bzw. ihrem Begräbnis endet er. Vor ihrem Tod konnte sie in ihrer Großnichte Adina das Interesse für die Vergangenheit der Familie wecken. Adina wird damit zur Hoffnungsträgerin. Sie wird die Geschichte der Familie weitertragen, durch sie werden die schon Verstorbenen vor dem Vergessen bewahrt. Sie hat durch Ednas Erzählungen begriffen, Familie sollte ein wichtiges und belebendes Element im Leben der Menschen sein.

Zuvor wurde gesagt, es gehe um jüdisches Familienleben. Vielleicht stimmt dies gar nicht, und es stellt sich nur für nichtjüdische Leser so dar. Für den deutschsprachigen Raum kann wohl behauptet werden, dass Nichtjuden jüdische Familie nur aus der Literatur, aus Romanen oder Biografien, und nicht aus eigenem Erleben kennen. (Anna Mitgutsch dachte daran wohl auch, als sie sich dankenswerterweise entschloss, Begriffe aus dem Judentum am Ende des Textes in einem Glossar zu erläutern.) Der Vergleich von eigener und jüdischer Familie entsteht also mit der Lektüre.

Wählt man nun diesen Weg des Vergleichs, finden sich Unterschiede, z.B. der Eindruck einer stärkeren Emotionalität der Beziehungen. Dies betrifft sowohl die Bindung an die Familie, als auch das Leid an und mit ihr. Letzeres ist aber begleitet von einer großen, manchmal nicht offensichtlichen Liebe, man denke z.B. an die „jiddische Mamme“, die gehasste und geliebte jüdische Mutter, die gleichzeitig mit großer Strenge und erstickender Liebe agiert. Jüdische Familie lässt in diesen Emotionen eine Sehnsucht nach Heimat erkennen, eine Heimat, die sich durch Familie definiert. Dieses Heimatgefühl ist es auch, das Ednas Befürchtung vom Zerfall der Familie zu verhindern scheint.

Mitgutschs Roman zeigt aber kein romantisierendes Familienleben. Er ist ein Plädoyer für die Notwendigkeit der aktiven Pflege von Familienbanden, seien es jüdische oder andere Familien. In unseren modernen Zeiten mit den veränderten Lebensformen läuft jede Familie Gefahr, den Zusammenhalt zu verlieren, wenn die gemeinsame Geschichte verloren geht. In Mitgutschs Romanfamilie sind die Charaktere geprägt von Erinnerungen, Traditionen und Sehnsüchten. Solange sie diese aktiv weitergeben und im Gespräch bleiben, werden sie die Familie erhalten.

Anna Mitgutsch Familienfest
Roman.
München: Luchterhand, 2003.
413 S.; geb.
ISBN 3-630-87148-8.

Rezension vom 19.09.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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