#Sachbuch

Exil ohne Rückkehr

Sabina Becker, Robert Krause (Hg.)

// Rezension von Georg Pichler

Zu den interessantesten Ergebnissen der Exilforschung der letzten zwanzig Jahre gehört zweifelsohne die Erkenntnis, dass das Exil nicht notwendigerweise, wie bis dahin fast immer behauptet, ein traumatischer Prozess der Entfremdung von der Heimatkultur war, zu der man zurückkehren wollte, was oft aber aufgrund der politischen, kulturellen, sozialen oder persönlichen Umstände nur schwer zu bewerkstelligen war; sondern dass es in vielen Fällen auch eine Bereicherung der Persönlichkeit und ein literarisch oder künstlerich kreativer Prozess der Auseinandersetzung mit der anderen, neuen, meist fremden Kultur war. Eben diesen Prozess der Akkulturation bei Autorinnen und Autoren der ersten und zweiten Generation des antifaschistischen Exils nachzuvollziehen, hat sich der von Sabina Becker, Robert Krause herausgegebene Band Exil ohne Rückkehr zum Ziel gesetzt.

In der Einleitung heißt es treffend, dass bislang „die Beschäftigung mit der literarischen Akkulturation in der Regel auf einzelne Autoren und Autorinnen, insbesondere der ersten Generation beschränkt“ (S. 5) blieb. So auch hier. Leider, denn statt eine ausführliche theoretische oder literarhistorische Zusammenschau der unterschiedlichen Akkulturationsprozesse von Exilautoren und Exilautorinnen zu versuchen, wird nach einer illustrativen Einleitung in das Thema auf das Werk verschiedener Exilautoren eingegangen und unter dem Aspekt der Akkulturation untersucht. Dabei stellt gerade diese Einleitung eine sehr gelungene Zusammenschau der Tendenzen und wissenschaftlichen Ergebnisse der letzten Jahre dar und hätte sowohl in die Tiefe als auch in die Länge gehen können.
So wird die Bedeutung der Kulturwissenschaften in ihren verschiedenen Ausformungen für die Exilliteraturforschung deutlich, wenn ab den Neunzigerjahren der Kulturbegriff dynamisiert wurde, man von der „Globalisierung der Differenz“, der „cultural diversity“, der „Hybridität“ der Kulturen sprach, die Exilanten in ihren neuen Ländern in Anlehnung an Homi K. Bhabhas Werk „verortet“ wurden und von der „subversiven Kraft des ausgeschlossenen Dritten“ (alle Zitate S. 7) die Rede ist. Dank dieser Neuausrichtung, so stellen die Herausgeber fest, sei ein „weitaus offeneres und dabei komplexeres Bild von Prozessen der Akkulturation und des Kulturtransfers“ (S. 8) entstanden. Zugleich wird aber im Band auch deutlich, dass es eine verstärkte Hinwendung zu einst als „minder“ angesehenen Textsorten gibt, wie etwa Tagebüchern, Briefen, Notizen, die gemeinsam mit einem umfassenden interdisziplinären Ansatz die Wende zu einer kulturtheoretischen Betrachtung einleitete.

Die einzelnen Beiträge sind in vier große, klug gewählte Themengruppen geteilt, zu denen es jeweils drei oder vier Aufsätze gibt. Die erste Gruppe widmet sich dem Thema „Heimat und Exil, Heimat im Exil“, gefolgt von einer Analyse verschiedener „Medien der Akkulturation“, einem Abschnitt über „Akkulturation zwischen Gelingen und Scheitern“ sowie dem späten Vergegenwärtigen der Exilerfahrung im „Vergangenes vergegenwärtigen“ betitelten Schlussteil.
Die Artikel bewegen sich, mit wenigen Ausnahmen, im Rahmen des Kanons. Anna Seghers steht im Mittelpunkt von drei Aufsätzen, die unterschiedliche Aspekte ihres Exilwerks beleuchten. Einerseits wird ihre Fahrt „zwischen den Welten“ dargestellt als Auseinandersetzung mit dem Verlassen der Heimat im Fluchtroman Transit und der Rückkehr in dieses, in der Zwischenzeit zur SBZ/DDR gewandelten Heimatlandes in der Novelle Überfahrt. In zwei einander ergänzenden Beiträgen wird einerseits die Problematik von Seghers‘ politischem Engagement im Exil angerissen, das eine Zeit des fruchtbaren Schreibens war, jedoch einer tatsächlichen Akkulturation im Wege stand, da sich die Autorin in Frankreich und Mexiko deutschen Themen widmete oder, wie in Transit, über die Exilsituation selbst schrieb, scheinbar ohne sich auf ihre Gastländer extensiv einzulassen. Erst nach ihrer Rückkehr in die DDR werden in einer Art „verspäteter Akkulturation“ die in Mexiko gemachten Erfahrungen von der Autorin literarisch verarbeitet und finden Eingang in mehrere Texte, die, wie etwa in der Erzählung Das wirkliche Blau, eine nostalgische Sehnsucht nach der Buntheit Mexikos mitten im grauen deutschen Alltag deutlich werden lassen – eine nicht neue Erkenntnis, die hier aber ausführlich belegt wird.
Anderen Großen der Exilliteratur gelten weitere Beiträge. So etwa der „autobiografischen Selbstverortung“ Manès Sperbers in Bis man mir Scherben auf die Augen legt im Rahmen seiner Biografie und seines späteren antikommunistischen Engagements. Dem Themenkomplex „Heimat, Weltflucht und Exil“ und der langsamen Verschiebung des Heimatbegriffs bei Else Lasker-Schüler ist ebenso ein Aufsatz gewidmet wie einem der weltgewandtesten deutschsprachigen Exilautoren und dem Prototypen der „Sprachwechsler“, nämlich Klaus Mann. Der originelle Aspekt einer Akkulturation durch Filmkritiken wird am Beispiel von Manfred George gezeigt, dem Herausgeber der im US-amerikanischen Exil erschienenen Zeitschrift Der Aufbau.

Zur ersten Generation der Exilanten gehört auch die jüdische Autorin Jenny Aloni, deren Weg nach Israel und in die hebräische Kultur in zwei Beiträgen nachvollzogen wird: Anhand ihres Tagebuchs, das vom Deutschen ins Hebräische wechselt, und an ihrem Roman Zypressen zerbrechen nicht, der sehr zwiespältig aufgenommen wurde, da ihm die israelische Presse mangelnden Patriotismus vorwarf, während ihm andererseits Max Brod „Anschaulichkeit“ und „hohen dokumentarischen Wert“ bescheinigte.
Zwei Angehörige der zweiten Generation bilden den Abschluss des Bandes. Die Werke von Lizzie Doron, die als 1953 geborene Nachkommin von Holocaust-Überlebenden auf Hebräisch über ihre eigene Familiengeschichte schreibt, werden auf das Verständnis ihrer Heimat Israel im Rahmen des Begriffs der „postmemory“ ausführlich und eingehend analysiert. Und die originellen Geschichten von Ellis Island des französischen Autors Georges Perec, der gemeinsam mit dem Regisseur Robert Bober 1979/1980 einen Film über die Akkulturation der auf dieser Insel internierten Exilanten drehte – vor allem über Italiener und Juden – und parallel dazu mehrere Texte veröffentlichte.

Neben diesen autorzentrierten Aufsätzen sind zwei Beiträge des Bandes übergreifenden Themen gewidmet. Einer behandelt das Schicksal der deutschsprachigen Emigrantinnen in Frankreich am Beispiel von Seghers, Hertha Pauli, Steffi Spira, Adrienne Thomas und Susanne Bach, deren Überlebensstrategien auf der Flucht vor den Nationalsozialisten im Rahmen eines neuen femininen Selbstverständnisses dargestellt werden, eines Selbstverständnisses, das sich erst in der Weimarer Republik herausgebildet hatte und bestimmend für das Lebenswerk dieser Frauen war. Ein zweiter Text dreht sich um Krankheit und Tod im Exil, behandelt die Selbstmorde von Ernst Toller und Klaus Mann, psychosomatische Erkrankungen, den Tod in den französischen Internierungslagern oder das Exilhotel als Ort des Todes, ein gut recherchierter Überblick über ein bislang wenig erforschtes Thema.

Der Band ist zweifelsohne in Hinblick auf die behandelten Themen sowie auf die Autorinnen und Autoren von Bedeutung, da er die jüngsten Ergebnisse mit Bezug auf Elemente von Akkulturation trefflich zusammenfasst. Leider aber wird er seinem Titel nicht ganz gerecht, da er die Gelegenheit verspielt, eine umfassende Zusammenschau der theoretischen Erkenntnisse und philologischen Ergebnisse der letzten Jahre zu sein. Kritisch anzumerken ist schließlich, dass das Buch nicht genau ausweist, in welchem Zusammenhang die Beiträge entstanden sind. Dem Verzeichnis der Verfasser und Verfasserinnen sowie dem Sprachduktus mehrerer Beiträge zufolge scheint es sich um einen Sammelband von Jungakademikern zu handeln, die sehr gut und genau arbeiten – dies sollte irgendwo angemerkt werden.

Sabina Becker, Robert Krause (Hg.) Exil ohne Rückkehr
Literatur als Medium der Akkulturation nach 1933.
München: edition text+Kritik, 2010
346 S.; brosch.
ISBN 978-3-86916-048-1.

Rezension vom 01.05.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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