Nicht in die Unterwelt der Schatten entführt Barbara Neuwirth ihre Zuhörer, sondern in eine triste Welt unter Deck. Die Autorin ändert teils die Namen der Sage und zeichnet eine infantile Rieke/Eurydike, die nicht mitbekommt, dass sie keine Touristenreise angetreten, sondern sich auf dem Totenschiff einquartiert hat. Auf einem Containerschiff billig zu reisen war schon immer der Traum von Rieke/Eurydike gewesen, doch sie hatte sich nicht vorstellen können, dann das Oberdeck nicht mehr betreten zu dürfen, wo sich Containerberge mit einer rätselhaften Fracht stapeln. Den Gang an Deck verbieten ihr der Steward Hermes, der in der Originalsage als Seelenbegleiter in der Unterwelt auftritt, Kapitän Aides/Hades, der in der Sage den Herrscher der Unterwelt gibt, und Kore/Persephone, in der Sage die Göttin der Jahreszeiten, hier eine durch und durch emanzipierte und dennoch erfolglose und frustrierte Kapitänsfrau, die ihren verhassten Gatten auf See begleitet. Ihr einziger Lichtblick ist das halbe Jahr, in dem sie vom Gatten getrennt leben darf.
Kore teilt mit Rieke die einzig verfügbare Kabine, wird aber zunächst als Zimmergefährtin von ihr abgelehnt. Rieke besteht darauf, die Kajüte für sich allein gebucht zu haben. Alle Versuche frauensolidarischer Annäherung scheitern wiederholt, sodass es nicht zu den wesentlichen Gesprächsinhalten kommt und Rieke nicht merkt, was es mit dem Containerschiff auf sich hat.
Eines der meistvariierten traditionellen Motive der altgriechischen Sagenwelt ist das Zurückblicken des Protagonisten Orpheus, obwohl er weiß, dass er dann Eurydike für immer ans Reich der Toten verlieren wird. Bereits von mehreren AutorInnen wurde es als eine absichtliche Geste gedeutet, um die Ehefrau, ihrer ohnehin überdrüssig, endgültig los zu werden. Barbara Neuwirth übernimmt diese Sichtweise und zeichnet eine Rieke/Eurydike, die sich sowohl von einem vergesslichen narzisstischen Orpheus als auch von einem Aides/Hades, der sich als Frauenversteher sieht, emanzipiert und distanziert. Ausgerechnet dieser Widerstand ist es, der den empathischen Totenrichter erkennen lässt, dass Rieke/Eurydike noch nicht reif sei fürs Totenschiff. Sie habe noch Träume und sei deshalb noch zu sehr dem Leben verhaftet, stellt er fest. Deshalb darf sie das Schiff im nächsten Hafen verlassen. Er gibt sie unerwartet frei.
Mit diesem unkonventionellen Schluss rückt Neuwirth erstmals Eurydike in den Fokus der Geschichte: Nicht Orpheus entscheidet über das Schicksal von Eurydike, sondern Eurydike selbst bestimmt eigenmächtig über ihre Zukunft. Eine spannende Neuentdeckung des Mythos, mit der sich Barbara Neuwirth einen Eintrag in motivgeschichtliche Lexika verdient.