#Audio

Eurydike überlebt

Barbara Neuwirth

// Rezension von Wolfgang Kauer

Die Wiener bzw. niederösterreichische Autorin Barbara Neuwirth hat den Stoff „Orpheus und Eurydike“ bereits 2005 als Drama bearbeitet, das 2006 als Grundlage für eine Tanztheaterproduktion der Salzburger Kompaniechefin Editta Braun diente. Inzwischen hat sie daraus ein Hörspiel geformt, das nun in Buchform erschienen ist. Ergänzt wird ihr Text durch themenbezogene Gemälde von Jutta Müller, ein Gespräch über den Stoff mit dem Filmemacher, Autor und Musiker Harald Friedl und eine sehr brauchbare wissenschaftliche Zusammenstellung aller historischen Bearbeitungen des Orpheus-Eurydike-Stoffes von Viktoria Macek. Hervorzuheben ist auch die sympathische grafische Gestaltung des Covers.

Nicht in die Unterwelt der Schatten entführt Barbara Neuwirth ihre Zuhörer, sondern in eine triste Welt unter Deck. Die Autorin ändert teils die Namen der Sage und zeichnet eine infantile Rieke/Eurydike, die nicht mitbekommt, dass sie keine Touristenreise angetreten, sondern sich auf dem Totenschiff einquartiert hat. Auf einem Containerschiff billig zu reisen war schon immer der Traum von Rieke/Eurydike gewesen, doch sie hatte sich nicht vorstellen können, dann das Oberdeck nicht mehr betreten zu dürfen, wo sich Containerberge mit einer rätselhaften Fracht stapeln. Den Gang an Deck verbieten ihr der Steward Hermes, der in der Originalsage als Seelenbegleiter in der Unterwelt auftritt, Kapitän Aides/Hades, der in der Sage den Herrscher der Unterwelt gibt, und Kore/Persephone, in der Sage die Göttin der Jahreszeiten, hier eine durch und durch emanzipierte und dennoch erfolglose und frustrierte Kapitänsfrau, die ihren verhassten Gatten auf See begleitet. Ihr einziger Lichtblick ist das halbe Jahr, in dem sie vom Gatten getrennt leben darf.

Kore teilt mit Rieke die einzig verfügbare Kabine, wird aber zunächst als Zimmergefährtin von ihr abgelehnt. Rieke besteht darauf, die Kajüte für sich allein gebucht zu haben. Alle Versuche frauensolidarischer Annäherung scheitern wiederholt, sodass es nicht zu den wesentlichen Gesprächsinhalten kommt und Rieke nicht merkt, was es mit dem Containerschiff auf sich hat.

Eines der meistvariierten traditionellen Motive der altgriechischen Sagenwelt ist das Zurückblicken des Protagonisten Orpheus, obwohl er weiß, dass er dann Eurydike für immer ans Reich der Toten verlieren wird. Bereits von mehreren AutorInnen wurde es als eine absichtliche Geste gedeutet, um die Ehefrau, ihrer ohnehin überdrüssig, endgültig los zu werden. Barbara Neuwirth übernimmt diese Sichtweise und zeichnet eine Rieke/Eurydike, die sich sowohl von einem vergesslichen narzisstischen Orpheus als auch von einem Aides/Hades, der sich als Frauenversteher sieht, emanzipiert und distanziert. Ausgerechnet dieser Widerstand ist es, der den empathischen Totenrichter erkennen lässt, dass Rieke/Eurydike noch nicht reif sei fürs Totenschiff. Sie habe noch Träume und sei deshalb noch zu sehr dem Leben verhaftet, stellt er fest. Deshalb darf sie das Schiff im nächsten Hafen verlassen. Er gibt sie unerwartet frei.

Mit diesem unkonventionellen Schluss rückt Neuwirth erstmals Eurydike in den Fokus der Geschichte: Nicht Orpheus entscheidet über das Schicksal von Eurydike, sondern Eurydike selbst bestimmt eigenmächtig über ihre Zukunft. Eine spannende Neuentdeckung des Mythos, mit der sich Barbara Neuwirth einen Eintrag in motivgeschichtliche Lexika verdient.

Barbara Neuwirth Eurydike überlebt
Hörspiel.
Mit einem Interview von Harald Friedl.
Mit einem Nachwort von Viktoria Macek.
Gemälde von Jutta Müller.
St. Pölten: Literaturedition Niederösterreich, 2022.
116 S.; geb.
ISBN 978-3-902717-59-7.

Rezension vom 03.08.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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