#Lyrik

Eurotunnel

E. A. Richter

// Rezension von Peter Landerl

Ein Buchkunstwerk ist E. A. Richters neue, in der Literaturedition Niederösterreich erschienene Publikation Eurotunnel. Ein großzügig großformatiges Buch mit einem eleganten schwarzen Einband, die Seiten aus gutem, dickem Papier, und zwischen Richters Gedichten Schwarzweiß-Grafiken von Waltraud Palme aus ihrer Serie „Journal“. Eine üppige, luxuriöse Ausstattung, ein Fest für Bücherfreunde.

E. A. Richter ist ein in Literatur und Bildender Kunst Erfahrener, mehr als zwanzig Jahre lang war er Wespennest-Redakteur, er hat zahlreiche Installationen und Filme gemacht und zuletzt den Gedichtband Das leere Kuvert veröffentlicht. Nun wieder Lyrik, der englischen Hauptstadt London gewidmet. Der erste Teil des Buches besteht aus nur einem Gedicht, „L in England“, das bereits im Oktober 1968 geschrieben wurde und auf Lichtenbergs Briefe aus seinem zweiten England-Aufenthalt 1774/75 anspielt. Die weiteren drei Teile des Buches sind in den Jahren 2000, 2001 und 1989 entstanden.

Die Reise nach London erfolgt unterirdisch über den Eurotunnel: „Völlig unspektakulär der Durchbruch: / Ashford, Gebüsch, Felder in Streifen.“ Was dann kommt, ist eine aufregende Reise durch London, in seine versteckten Winkel, über seine bekannten Plätze, zu seinen großen Museen. Fast jedes Gedicht korrespondiert mit einem Ort, einem Stadtteil oder einem Straßenzug. Richter erinnert sich an ein Stones-Konzert: „damals der radikal erweiterte Körper die nächtlichen Feuer / der musikalische Rausch der alle Menschen zu Gras werden ließ“. Oder er streunt durch das farbige London: „halbe Gesichter, eine Kassa, Bangladeshi-Brüder, / mißmutigen Mammis zunickend, lächelnde Irin, / in transparenter Bluse, überraschend mit einer Rechnung / auf ihrer Handfläche. Draußen, zwischen gespannten / Muskelarmen, braune, schwarze, auch rote Blicke, / stachen unter Dreadlocks, Turmhauben hervor.“

London kann aber auch kalt und abweisend sein: „Frösteln trotz langer Ärmel. 12. Juli, / und wir hatten dieses Wechselspiel satt: / Wolken am Himmel, die sich in Windeseile / vor die Sonne geschoben hatten, unaufhörlich. / Und dann noch ein kalter Hauch aus dem Gebüsch, / von den Bäumen, von überall her. 13 Grad. / Wir hatten keinen Unfall gesehn, / waren nicht mehr in die U-Bahn gestiegen: / denn zwischen Waggon und Röhre / würde kein Platz zum Durchkommen sein.“ Die Angst vor der Tube, leider aktuell seit den Anschlägen heuer: die verletzbare und verletzte Metropole.

Richters Gedichte sind so etwas wie erzählende Lyrik: Orts- und Zustandsbeschreibungen, die locker in ein lyrisches Raster eingefügt wurden. Lyrik, die nicht schwallt und prahlt, sondern schlicht bleibt und daher empfindsam. Genaue, schöne Bilder einer irrlichternden, nüchternen, auch melancholischen, immer lebhaften Stadt, die den Leser bannen.

Dazwischen montiert sind Palmes Grafiken, Mischtechniken, die mit Menschenporträts spielen. Bilder von Eingeborenen, Ureinwohnern, aus alten Lehrbüchern vielleicht, die gespiegelt, verfremdet, maskiert werden. Collagen, die an das British Museum erinnern, an das Commonwealth denken lassen.

Jeder hat seine England-Bilder, man denkt vielleicht an die Punks, die Queen, Orangenmarmelade, Tee, viele werden wohl geprägt sein von den „Ann and Pat“-Lehrbüchern aus der Hauptschul- oder Gymnasialzeit. Ilse Aichinger teilt mit E. A. Richter ihre Englandliebe. Sie schrieb über ihr merry old England die folgenden schönen Sätze: „Wenn ich morgen aufwache, werde ich seinen Nebel durch die Fenster- und Türritzen dringen spüren und ein Glück, das von Tag zu Tag kräftiger wird: Das Glück, da zu bleiben, wo man sich eben nicht aufhält. Ich werde mich nie mehr in England aufhalten. Und deshalb kann ich nie mehr davon verlassen werden: von seinen erstaunlichen Farben, seinen Trends, seinen Moden, seinen Manien, die mir eine Weltvernunft bezeugen, die unvernünftig genug ist.“ Von diesen angesprochenen Farben, Trends, Moden und Manien hat sich Richter inspirieren lassen und ein lesenswertes lyrisches Kaleidoskop geschaffen.

Im vierten Teil des Buches tritt London einen Schritt in den Hintergrund, wird das lyrische Ich persönlicher, erzählt von Schuld und Verletzungen: „Jetzt bin ich selbst die Krankheit Vater / die aus den Söhnen fließt dreimal täglich“ oder: „Tränen könnten springen beim Gedanken / an all die Demütigungen die ich dir antu. / Ich versteh nichts fühl nur Schande / und Reue mach weiter.“

Eurotunnel.
Lyrik.
Mit Grafiken von Waltraud Palme.
St. Pölten: Literaturedition Niederösterreich, 2005.
128 Seiten, gebunden, mit Abbildungen.
ISBN 3-901117-80-6.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 18.10.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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