#Roman

Europas längster Sommer

Maxi Obexer

// Rezension von Barbara Rieger

„Wo ist dieses freie Land, das den schönen Namen Europa trägt?“
Dies ist nur eine der Fragen, mit denen sich der Text Europas längster Sommer von Maxi Obexer auseinandersetzt. Es geht um die Menschen, die Europa durchwandern, es geht ums Weggehen und Ankommen, um Zugehörigkeiten, um das Verhältnis von Minderheiten zur Mehrheitsgesellschaft, um kollektive (nationale) und individuelle Identitätskonstrukte und nicht zuletzt um rechtliche Unterschiede zwischen Menschen.

„Europa gründete sich über Verträge und Festakte, auf den Trümmern von Ruinen von Kriegen, auf den Leichenbergen, die der nationalistisch organisierte Hass aufgetürmt hatte. Um solche Verwüstungen und Vernichtungen für immer zu bannen, wurde ein Himmelszelt über die Nationalstaaten gespannt. […]
Von überall her und in alle Richtungen wird seither aus- und eingewandert. Die Bürger der europäischen Länder durchwandern diese gegenseitig. Ihnen wird es einfach gemacht, sie können einfach gehen. Andere, die nach Europa aufbrechen, müssen oft Mauern durchstoßen, den Eintritt müssen sie sich blutig erkämpfen. Gemeinsam haben sie alle eins: sie sind gegangen, um woanders anzukommen.“ (7f)

Auf einen Prolog folgen 19 Kapitel, in denen autobiographische Erzählungen mit theoretischen Abhandlungen verbunden werden. Neben narrativen, zum Teil sachlichen, zum Teil poetisch anmutenden Passagen stehen Absätze, die auch in eine wissenschaftliche Arbeit passen würden. Fakten und Hintergrundinformationen werden ebenso präsentiert wie Meinungen. Zahlreiche Fragen werden aufgeworfen. Die Bezeichnung Roman – am Cover – ist somit irreführend, der Begriff Romanessay – zu finden im Klappentext – trifft es wesentlich besser.
Als Rahmenerzählung dient eine Zugfahrt der Protagonistin, bei der es sich offenbar um die Autorin selbst handelt. Sie hat soeben den Bescheid erhalten, dass ihr Einbürgerungsverfahren abgeschlossen werden kann und reist von Südtirol nach Berlin, wohin sie vor vielen Jahren migriert ist. Der Erhalt des Bescheids markiert das Ende einer Geschichte des Aufbruchs, des Auseinandersetzens mit der eigenen Identität und des Ankommens in Deutschland, an deren Phasen die Autorin sich während der Zugfahrt erinnert bzw. von denen sie uns erzählt:
„Es ist eine abenteuerliche Reise, tiefgehender als alles andere. Und sie beginnt nicht mit dem Tag der Einreise. Das eigentliche Einwandern beginnt später und nimmt zu und wird immer mehr, je mehr das wird, was da in einen einwandert. Und wahrscheinlich hört diese Reise, einmal begonnen, nicht wieder auf.“ (15)
Zu dieser Reise gehören Erfahrungen im sogenannten „Ausländereinwohnermeldeamt“ und der Weg von der befristeten Aufenthaltsgenehmigung zur Freizügigkeitsbescheinigung, die die Autorin als EU-Bürgerin mit der Auflösung der europäischen Binnengrenzen erhält. Geschildert wird eine große Sehnsucht nach der deutschen Sprache ebenso wie skurril anmutende Sprachbarrieren: Während ein Theaterstück der Autorin kurz vor der Umsetzung steht, wird von einem Universitätsangehörigen bezweifelt, ob ihr Deutsch gut genug für ein Grundseminar sei.

Erzählt wird auch von einem sanften Coming-out, das für die Autorin allerdings keine „Zerreißprobe“ war: „Im Vergleich zu meinen restlichen Aus- und Einwanderungen war die von den Männern zu den Frauen nur eine Frage von Erweiterung und Vertiefung (23).“ Die Autorin wird Gründungsmitglied im Gender-Café und Teil der Frauen-, Lesben- und Queerszene des „untergehenden Ostberlin“, in der sie aber immer wieder als fremd wahrgenommen wird.
“ ‚Irgendwie anders.‘ Manchmal tat der Satz weh, er machte mich hilflos. Was war anders an mir? Sie wussten es nicht. In ihren Augen war ich weder eine Ossi noch eine Wessi; sie nannten mich eine Südin. Aber das ergab nichts. Ihre Konfliktachse lief zwischen Osten und Westen; dazwischen und daneben gab es keinen Süden.
Erst viel später verstand ich, warum wir so sehr aneinander vorbeisuchten. Wofür sie selbst noch keine Worte hatten, und wofür es allgemein keine Worte gab, und was ich, die sich als Fremde verstand, am wenigsten verstehen konnte: sie waren selbst Fremde in einer Welt, die ihnen zugleich tief vertraut war.“ (29)

Neben den autobiographischen Passagen stehen Geschichten von anderen Aus- und Einwandernden. Sie alle stehen im Spannungsverhältnis von einer großen Sehnsucht nach Europa bzw. nach Deutschland und der Unmöglichkeit eine „Deutsche“ zu werden und verdeutlichen ein Dilemma der Migration:
„Wir bleiben nicht, was wir waren, aber wir können nicht werden, was wir sein müssten und was wir, ob gewollt oder ungewollt, irgendwann auch sind: Deutsche.
Das trifft auf Türken, Polen, Russen, Italiener, Briten, Franzosen, Holländer, US-Bürger gleichermaßen zu wie auf Nigerianer, Syrer oder Vietnamesen – kurz: auf alle Bürger dieser Erde. Ein Deutscher kann man nicht werden. Genauso wenig wie man ein Italiener oder ein Franzose oder ein Österreicher oder ein Däne oder ein Schwede werden kann. Und keine noch so heldenhafte herz- und weltzerreißende Einwanderungsgeschichte, auf die derjenige, der sie gemeistert hat, stolz sein kann, und mit ihm alle jene, die ihn ankommen ließen, wird in der Lage sein, daran etwas zu ändern.“ (73f)

Thematisiert wird ebenso die Auseinandersetzung mit der Heimat (jener der Autorin), versinnbildlicht durch den Hund, der in Südtirol geblieben ist und durch die Mutter, die bei jedem Heimatbesuch ohne Anklage oder Vorwurf, aber voller Abschiedsschmerz am Bahnhof steht. Und nicht zuletzt durch die Landschaft, in diesem Fall die Berge. Weiters wird der Minderheitenstatus Südtirols innerhalb des italienischen Nationalstaates, auch zur Zeit des Faschismus, thematisiert und auf die Wahrnehmung der „deutschen Urlauber“ in Südtirol eingegangen.
Und nicht zuletzt wird versucht die eigenen Migrationserfahrungen in Kontext mit der aktuellen Flüchtlingsthematik zu bringen. Die Autorin ist sich ihres privilegierten Status durchaus bewusst und solidarisiert sich mit den weniger privilegierten Flüchtlingen.
Auf der Zugfahrt steigen in Franzensfeste – es handelt sich dabei, wie wir erfahren, um eine der größten Abwehranlagen im Alpenraum, die sich allerdings niemals in ihrer Geschichte bewähren musste – sechs junge Männer ein: „Sie könnten Jungs sein, die zum Fußball fahren oder zum Trompetenunterricht. Bis zum Brenner ist es noch eine Station und eine halbe Stunde Fahrt. Wenn sie dort nicht aus dem Zug geholt werden, haben sie gute Chancen, es bis nach Deutschland zu schaffen.“ (41) Sie scheinen stellvertretend für alle Flüchtlinge zu stehen und schlafen erschöpft von ihrer Reise, bis sie im vorletzten Kapitel aufgeweckt und von Polizisten aus dem Zug geholt werden. „Drinnen sitzen wir, draußen stehen sie, aufgestellt wie zum Anschauen und Abgeholtwerden.“ (102) Auf dieses Bild, welches durchaus andere historische Bilder von abtransportierten Menschen evozieren könnte, folgt im letzten Kapitel die feierliche Einbürgerung der Protagonistin/Autorin.

Es gibt einige solche starke, schöne, traurige, nachdenklich stimmende Bilder in diesem Romanessay. Die persönlichen Passagen werden zweifellos jene interessieren und berühren, die sich selbst auf der Suche nach der eigenen Identität befinden. Die essayistischen Abhandlungen sollten zum Nachdenken anregen, nicht zuletzt über die Frage, wer wir – als EuropäerInnen, als Deutsche, als ÖsterreicherInnen – sind. Und darüber, ob es immer andere geben muss, damit wir wir sein können.
Bedauerlich ist meines Erachtens, dass die sechs Jungs während der Zugfahrt schlafen. Ich hätte mir erhofft, sie würden die Augen öffnen, die Autorin würde ein Gespräch mit ihnen beginnen und sie zu Wort kommen lassen.

Maxi Obexer Europas längster Sommer
Roman.
Berlin: Verbrecher Verlag, 2017.
112 S.; geb.
ISBN 978-3-95732-271-5.

Rezension vom 08.10.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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