#Theater

Es singen die Steine

Gert Jonke

// Rezension von Arno Rußegger

Mit Es singen die Steine hat Gert Jonke kein ästhetisch revolutionäres Theaterstück vorgelegt, wie es der Verlag in diversen Ankündigungen glauben machen will. Immerhin jedoch eine Art Revolutionsstück, in dem es um verschiedene Befreiungsaktionen geht, die kunstvoll ineinander greifen:

Da ist einmal die Hauptfigur namens Wildgruber, ein „kosmische[r] Kaspar Hauser“ (S. 71), der zu Anfang der Handlung buchstäblich wie ein Stein in die Welt geworfen wird, ohne sie bzw. sich selbst zu verstehen. Wildgruber gibt es sinnfälligerweise daher gleich in doppelter, nein, eigentlich sogar in dreifacher Gestalt: als erwachsenen Mann und gleichzeitig als Kind, und dann noch als Ulrich Wildgruber, den leibhaftigen berühmten Mimen, dem Jonke das Stück gewidmet hat (und der bei der Klagenfurter Uraufführung anläßlich der Neueröffnung des rundum renovierten Stadttheaters auch die Hauptrolle spielt). Die genannten ersten beiden Wildgruber finden im Laufe der Handlung zueinander, zunächst nur zögerlich die Kluft einer nicht gelebten Vergangenheit überwindend, schließlich aber das Vexierspiel mit verschiedenen Identitäten einem glücklichen Ende zuführend. Knapp vor der Hinrichtung durch ein Erschießungskommando wird der „große“ Wildgruber, der aufgrund seiner völlig undefinierten Existenz das herrschende System des Königs und einiger Weltkonzerne durcheinandergebracht hat, vom „kleinen“ befreit: „Wildgruber: Ich danke mir, mich da herauszuholen, und dachte schon, es würde doch nicht mehr gelingen, […].“

Darüberhinaus thematisiert das Stück einen „Bürgerkrieg“ (S. 107) zwischen einem Volk von skurrilen Ökofexen und Theatermachern auf der einen Seite (es treten beispielsweise auf ein Landschaftspräsident, eine Obersennerin, ein Obmann der Schattengeflügelhöfe, eine personifizierte Wiese, ein Intendant, ein Inspizient, ein Kantineur sowie mehrere Untergrundwirtschaftskammervertreter) und skrupellosen Mächtigen auf der anderen Seite, denen nicht einmal der Marianengraben, jene tiefste, empfindlichste und intimste Erdfaltung inmitten der Weltmeere, heilig genug ist, um dort nicht „herumzufummeln“ (S. 118), das heißt, keine Atomtests und dergleichen durchzuführen. Wildgruber, der nicht gerade mit einem heldischen Charakter ausgestattet ist, dafür aber mit einem Zauberhut, einem Zaubertuch und einem Zauberhorn, avanciert, ohne es darauf angelegt zu haben, zum Rädelsführer des Aufstands, bekommt von seinen Anhängern immer mehr Spitznamen angedichtet („L’Invisibile, Il Montanaro, Il Rosso etcetera“, S. 64) und feiert letztlich einen Sieg, an dem er sich nicht recht erfreuen mag. Denn seine Geliebte und Schwester (die also nichts als eine weitere Spiegelung seiner selbst ist), die wilde Rose Heckenrosa, überlebt das Kampfgetümmel nicht.

Der Lektüre eines Theaterstücks haftet meist etwas Unbefriedigendes an, das der Unrealisiertheit der apparativen Voraussetzungen entspringt, auf denen es basiert. Anders bei Gert Jonke, dessen Texte generell von einer ihm ureigenen Konzeption der Poesie her zur Wirkung gelangen, die praktisch medienunabhängig zu sein und Transfers zwischen Buch-, Rezitations-, Theater- oder Hörspielform ohne weitere Umstände zu erlauben scheint. So treten äußerliche Schaueffekte auch in Jonkes neuestem Werk in den Hintergrund; das meiste darin erfährt man erst im nachhinein, indirekt, ohne daß es deshalb zu einem reinen Lesedrama verblassen würde. Denn Jonke ist sich der Stilmittel, die er verwendet und über die Jahre perfektioniert hat, allzu bewußt. Er bietet diesmal eine raffinierte Genre-Mixtur aus Elementen von Zaubermärchen (in bester österreichischer Volksstück-Tradition) und Science-fiction, Kriminalgeschichten und politischen Lehrstücken, griechischen Tragödien und Erzählungen aus tausendundeiner Nacht, existentialistischen Parabeln und biblischen Mythen, von Peter Handkes „Spiel vom Fragen“ und Woody Allens „The Purple Rose of Cairo“. Was ironischerweise als „Naturtheater“ ausgegeben wird, erweist sich in Wirklichkeit als ein durch und durch künstliches, vielfach in sich gebrochenes, metafiktionales, intellektuelles Hirngespinst, das inhaltlich erstaunlicherweise trotzdem allerlei kritische Anspielungen auf aktuelle politische Gegebenheiten zu transportieren vermag.

Gert Jonke Es singen die Steine
Ein Stück Naturtheater.
Salzburg, Wien: Residenz, 1998.
126 S.; geb.
ISBN 3-7017-1121-6.

Rezension vom 25.09.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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