#Roman
#Prosa

Es könnte schlimmer sein

Mario Wurmitzer

// Rezension von Stefanie Jaksch

Dem Wir entkommst du nicht

Alpha Solutions passt auf dich auf. Alpha Solutions will nur dein Bestes. Bei Alpha Solutions wird es dir an nichts mangeln. Alpha Solutions sucht dir einen guten Partner. Alpha Solutions macht dich zu einem verlässlichen, glücklichen Teil der Gemeinschaft. Solange du keine eigenen Gedanken hast.

In seinem Roman mit dem euphemistischen Titel Es könnte schlimmer sein katapultiert uns Mario Wurmitzer ins nicht allzu ferne Jahr 2037, in dem ein kollektives Wir emsig wie die Ameisen für den allmächtigen Konzern Alpha Solutions arbeitet. Das Firmengelände wird nicht mehr verlassen, das Management ist zwar unfähig, wird aber nicht hinterfragt, und die Firma sucht den Mitarbeiter:innen sogar die Lebenspartner:innen aus. Spezialisiert hat sich Alpha Solutions auf Müllbeseitigung, eine Branche, die in der Zukunft floriert. Regierungen entledigen sich so ihres unliebsamen Datenmülls, Städte ihres Abfalls – und Menschen dank einer Wunderpille ihrer Erinnerungen. „Alpha Solutions könne alles zum Verschwinden bringen“, heißt es lakonisch (S. 16). Manchmal übrigens auch Menschen, wenn sie unliebsame Minderleister:innen oder Aufrührer:innen sind.

Auftritt Anna, 37 Jahre alt, auf der Mülldeponie arbeitend und in einer arrangierten Beziehung mit Thomas feststeckend, die ohne besondere Qualifikation am Standort Gerasdorf bei Wien zur Expertin für Gewaltprävention, Stress und Aggressionsabbau ernannt wird. Warum? Um Jugendliche zu coachen, die sich gegen das herrschende System auflehnen wollen, notfalls auch mit Gewalt. Bei ihrem ersten Gespräch mit deren Rädelsführer Sven regt sich etwas in Anna, das sie noch nie gespürt hat: Zweifel. Ist Alpha Solutions tatsächlich ein guter Arbeitgeber? Was ist eigentlich freier Wille, wenn man in einem Hive Mind aufwächst? Und was für eine Welt liegt außerhalb der Firmenmauern?

Eine, die auch nicht so viel besser ist, meint Anna im Lauf des Romans zu erkennen, während man als Leser:in ihrer physischen wie psychischen Irrfahrt innerhalb und außerhalb von Alpha Solutions folgt. Die Teilzeit-Revoluzzerin ist schnell ein Spielball nicht nur des Konzerns, sondern auch anderer Mächte, die nach ihr greifen: „Für mich war es nichts Neues, mein Schicksal nicht in der Hand zu haben.“ (S. 193) Mal wird sie in die Firmenzentrale in London versetzt, mal von der revolutionären „Blauhosenbewegung“ vereinnahmt, mal plötzlich als Lifecoach oder wahlweise als Visionärin und Künstlerin gefeiert, die in einer Art Sanatorium sinnlose Kunstwerke schaffen soll. In irrem Tempo wechseln die vor Absurditäten nur so strotzenden Schauplätze, konterkariert von Annas eigenartig emotionslos gehaltenem Tonfall. Zweifel kommen auf: Wie zuverlässig ist diese Erzählerin überhaupt? Kann man ihr trauen?

Vertrauen in eine übergeordnete Instanz, einen „good cause“, oder das Wegbrechen derselben ist so eine Sache – und ein Thema, das Mario Wurmitzer, der 2018 mit Im Inneren des Klaviers im Wiener Luftschacht Verlag sein Debüt herausgebracht hat, anhaltend beschäftigt. Auch die Hauptfigur seines beim Bachmannpreis 2023 vorgetragenen Texts Das Tiny House ist abgebrannt spielte geschickt mit der Erzählhaltung und dem Scheitern einer Person an systemischen, von Firmen gelenkten Realitätswahrnehmungen. Mit Es könnte schlimmer sein gelingt ihm eine satirisch-dystopische Fortschreibung einer großen Frage unserer Zeit – wie viel sind wir bereit aufzugeben, um Teil einer gemütlichen, zur Verdrängung tendierenden Gemeinschaft zu werden? Viel, lässt sich vermuten. In kleinen Seitenhieben blitzt da ab und an auch auf, dass Österreich eine gewisse historische Tendenz zur Verdrängung durchaus innewohnt: „Das Vergessen hatte in Österreich eine lange Tradition, auf der man aufbaute. Man verkaufte eine Vision: den Traum von der Freiheit von der Vergangenheit. Die internationale Nachfrage war enorm.“ (S. 191)

Apropos Österreich: Prophetisch gar erweist sich Wurmitzer in einer Passage über sogenannte Normalitätsmanager, die die niederösterreichische Landeshauptfrau wohl in Verzückung versetzen würde: „Sie [die Normalitätsmanager] errichteten ein Regime der Angst. Das ging leichter, als man meinen sollte. Hier ein bisschen Angst, da ein bisschen, fertig. Jeder fürchtete sich, etwas zu tun, das als unpassend beurteilt wurde, als Ausdruck von Inkompetenz und Abnormalität.“ (S. 117) Und wer fühlte sich bei einem lakonisch platzierten Satz wie „Einsame Despoten waren die Vergangenheit, despotische Leitungsteams waren die Zukunft.“ nicht ein bisschen an aktuelle politische Ränkespiele erinnert?

Anna jedenfalls müht sich gleich einem modernen Sisyphos: Ihre (mitunter halbherzigen) Versuche, sich dem Koloss Alpha Solutions entgegenzustemmen, mal allein, mal mit fragwürdigen Verbündeten, schlagen fehl. Die ersehnte Befreiung aus dem Konzernkorsett reicht immer nur so weit, wie Anna sehen kann – und das ist meistens nicht besonders weit und wohl auch so gewollt: „Sogar die Vorstände erweckten den Eindruck, sie hätten kaum Einblick in das große Ganze, über das viel gesprochen wurde.“ (S. 111)

Ihre aufmüpfigen Momente erlöschen ebenso schnell, wie sie aufgeflammt sind, und konsequenterweise gehen nicht nur Firmengebäude, sondern einmal auch Annas eigener Wohnsitz in Flammen auf. Gefangen in einem Strudel aus Revolution und Gegenrevolution, zwischen kapitalistischer Versuchung und entmutigenden Erfahrungen eingeklemmt, ebnet der allmächtige, keinen logischen Regeln, sondern nur Profitmaximierung folgende Arbeitgeber nach und nach ihren Widerstand auf ein Nulllevel ein.

Mario Wurmitzer beweist dabei immer wieder sein Talent für absurde Situationen und fast schon dadaistisch anmutende Gesprächsversuche – das ist erschreckend unterhaltsam, auch wenn ab und an eine Wendung ein bisschen zu plötzlich erscheint oder ein wenig zu smooth über die Bühne geht.

Bei den Leser:in hinterlässt die Berg- und Talfahrt jedenfalls Spuren. Am Ende ist man sich eigentlich bei keiner Aussage mehr sicher, ob sie so gemeint ist, und auch dem Wurmitzerschen Personal steht man leicht argwöhnisch gegenüber, wenn sich Widerspruch auf Widerspruch schichtet. „Ich schaute hoch zum wolkenverhangenen Himmel und fragte Marianne, warum sie behauptet hätte, die Sonne scheine“ denkt Anna (S. 245), kurz bevor sie sich dem kollektiven Wir hingibt, das sie trotz aller Freiheitsbestrebungen immer vermisst hat. Haltungen machen leider einsam, so ihre Erkenntnis.

Sind wir also am Ende alle am glücklichsten, wenn wir mitlaufen dürfen, wenn wir in vorgegebenen Bahnen kreisen und uns Entscheidungen abgenommen werden? Wenn wir nichts hinterfragen müssen, nicht zu viel fühlen, sehen, verstehen müssen? Mario Wurmitzers Antwort wäre wohl ein augenzwinkerndes Ja. Ob es schlimmer sein könnte? Sicher. Zu wünschen ist uns das allerdings nicht.

 

Stefanie Jaksch, geboren im fränkischen Erlangen, lebt und liest seit 2011 in Wien. Nach dem Studium der Theater- und Medienwissenschaft sowie der Amerikanischen Literaturwissenschaft einige Jahre u. a. am Schauspiel Stuttgart und dem Theater & Orchester Heidelberg verantwortlich für PR und Öffentlichkeitsarbeit. Nach einigen Jahren in der Wiener Buchhandlung Buchkontor und im Verlag Perlen-Reihe folgte der Wechsel zum Verlag Kremayr & Scheriau, wo sie zuletzt die Verlagsleitung innehatte. Im Programm setzte sie mit Autor:innen wie Elfriede Hammerl, Laura Wiesböck, Marlene Engelhorn, Christian Berger und Daniela Brodesser einen gesellschaftskritischen, feministischen und politischen Schwerpunkt und erfand die vielbeachtete Essay-Reihe „übermorgen“, die u. a. mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch ausgezeichnet wurde.
Stefanie Jaksch bezeichnet sich selbst als Wortarbeiterin und ist seit Juni 2023 freischaffende Moderatorin, Kuratorin und Autorin.

Mario Wurmitzer: Es könnte schlimmer sein.
Roman.
Wien: Luftschacht Verlag, 2023.
Seiten 256, Hardcover.
ISBN 978-3-903422-34-6.

Homepage des Autors

Verlagsseite mit Leseprobe

Rezension vom 17.10.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.