#Roman

Es gibt uns

Elisabeth Klar

// Rezension von Marcus Neuert

Für nicht wenige bahnt sich dieser Tage gerade ein neuer Weltkrieg an, der Planet erhitzt sich, auch unter unserer ungesunden Geschäftigkeit, immer mehr und alte und neue Seuchen stehen in den Startlöchern, uns auszulöschen: Es ist damit ganz offensichtlich wieder einmal die hohe Zeit der großen literarischen Zukunftsentwürfe – das Phantastische hat Konjunktur.
Ihren sehr bemerkenswerten Beitrag liefert dazu die Wiener Autorin Elisabeth Klar, die neben Vergleichenden Literaturwissenschaften auch Transkulturelle Kommunikation studiert hat. Soeben erschien ihr neuer Roman Es gibt uns im Residenz Verlag.

Elisabeth Klar führt ihr Lesepublikum in eine Welt ein, in welcher die Menschheit, wie wir sie kennen, nicht mehr existiert. Stattdessen haben sich nach langen Phasen von Atomkriegen und Epidemien, von Umweltzerstörung und menschlichem Mutwillen mutierte Mischwesen aus humanoiden, tierischen und pflanzlichen Entwicklungslinien gebildet, die schlecht und recht gelernt haben miteinander zu interagieren und zwischen verseuchten Landstrichen, von Krankheiten und Tumoren geplagt, ein karges Auskommen zu finden. Schauplatz ist eine merkwürdige Stadt namens Anemos, in welcher das Quallenwesen Oberon Kraft eines speziellen bunt leuchtenden Mikrobioms für die lebensnotwendige Entgiftung des Wassers zuständig ist, eine symbiotische Lebensgemeinschaft aus Mensch, Hirsch und Spinne namens Titania hingegen für die Gewächshäuser und die gemeinschaftsstiftenden Feste der vielgestaltigen Stadtgemeinde und ihrer Besucher. Ein mit grünem Klee bedecktes Geschöpf namens Iubdan, die wandelnde Vulva Baubo und ein riesenhaftes Schuppentier sind weitere Protagonisten des Romans. Die Namen, Shakespeares Sommernachtstraum, der griechischen und der keltischen Mythologie entlehnt, versinnbildlichen das Eklektisch-Kultische dieser posthumanen Zivilisation. Die wenigen Freuden der ständig vom Tod Bedrohten sind rauschende Feste, Theaterstücke, an denen alle teilnehmen dürfen und sexuelle Spiele, teils unter dem Einfluss pflanzlicher Drogen, die sich jedoch nur wenige leisten können.

Das Schleimtierchen Müxerl (eine liebevolle mundartliche Ableitung von lat. mucus = Schleim) tötete einst Oberon im Liebesspiel versehentlich und stellte die Gemeinschaft von Anemos damit vor ein existenzielles Problem: ohne das von Oberon aufbereitete Wasser droht allen der Tod. Diese Geschichte wird in Form eines rituellen Schauspiels dargestellt, in welchem die einzelnen Protagonisten sich teilweise selbst spielen. Ein Chor nach griechischem Tragödienvorbild kommentiert, fragt und teichoskopiert, und auch das Publikum wird kultisch eingebunden. Über das Müxerl wird eine Art Gericht gehalten, den Regeln der Gemeinschaft geschuldet scheint das Urteil schon festzustehen: Was du kaputt machst, musst du richten. Das lebensspendende Mikrobiom soll im Körper des Schleimtierchens eine neue Heimat finden.

Von der Reflexion der Geschehnisse und der Einsicht in die Unterordnung unter das unvermeidliche Große und Ganze handelt das Stück – und damit auch der Roman, der diesem Theaterspiel gewissermaßen den formalen Rahmen verleiht. Die Art und Weise des Stückaufbaus und der rituelle Grundtenor lassen Analogien zum nationalsozialistischen Thingspiel und den Massenspielen der Arbeiterbewegung der 1920er und 1930er Jahre erkennen. Doch wird hier natürlich weder ein Klassenbewusstsein noch ein völkisch geprägter Zusammenhalt verherrlicht, sondern im Gegenteil die Vielfalt der Individuen als Teil einer Überlebensgemeinschaft beschworen, die aus freien Stücken zum Wohl aller zusammenfinden muss. Ein anderer Grundsatz der Gemeinschaft von Animos lautet nämlich, dass auch ein Widerstand des Individuums gegenüber jeglichem Ansinnen von außen respektiert werden soll. Die Regeln der Gemeinschaft machen Entscheidungen also nicht immer ganz einfach.

Was das konventionelle Leseerlebnis anfangs irritieren mag, ist die von Genderbegrifflichkeiten durchsetzte Sprache: diese Mischwesen stellen sich mit Namen und zugehörigen Personalpronomen vor – als ob eine wie auch immer geartete Geschlechterzuordnung in einer postapokalyptischen Überlebensgesellschaft eine herausgehobene Rolle spielen müsste. Das leuchtet zumindest aufs erste Ansehen nicht unmittelbar ein, wird jedoch nach und nach immer plausibler, weil im Lauf der Handlung zunehmend deutlich wird, wie sehr die Individuen dieser prekären Existenzgemeinschaft gerade auf diese ureigene Individualität angewiesen sind: um sich nicht ausschließlich als Abkömmlinge einer von eigener Hand ausgelöschten Spezies und damit als ultimativ Gescheiterte zu fühlen. Ein gewisser trotziger Stolz ist damit verbunden: wir über-leben nicht nur, wir leben, rufen sie der Leserschaft damit zu: Es gibt uns.

Dies manifestiert sich auch in den rauschenden, ekstatischen Festen, die Titania für die Stadtgemeinde Anemos‘ ausrichtet: Imbolk im Spätwinter als Fest des Versprechens auf ein wiederkehrendes Wachstum, Walpurgis im Frühjahr als überschäumende Feier des Lebens, Samhain im Herbst als Trauer- und Totenfest, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie dienen der rituellen Selbstvergewisserung der prekären postapokalyptischen, aber auch ekstatischen Lebensgemeinschaft. Nicht umsonst hat Elisabeth Klar ihrem Roman ein Zitat von Pina Bausch vorangestellt, welches sich auch im Text wörtlich und implizit an mehreren Stellen wiederfindet: „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren.“

Nur zögernd kommen echte Identifikationsmöglichkeiten zwischen Lesenden und den im Text handelnden Personen auf: zu fremd wirken zunächst die beschriebenen mutierten Wesenheiten, die in ihrer biologischen (und mitunter auch sozialen) Entwicklung bereits weit abgerückt zu sein scheinen von dem, was gemeinhin noch als zur Menschheit gehörig akzeptiert werden mag. Was sie hingegen eint und auch auf die Lesegemeinde als Anknüpfungsmoment wirkt, ist ihre Sprache und die Art und Weise ihrer Kommunikation, die genaue Erklärungen sucht und sich auch in emotionalen Details dem jeweiligen Gegenüber empathisch mitzuteilen bemüht ist.

Elisabeth Klar hat mit Es gibt uns ein sehr eigenwilliges Stück phantastischer Zukunfts-Literatur geschaffen, das seinen Reiz nicht zuletzt aus der Tatsache bezieht, dass hier keine künstliche Intelligenz und keine Maschinenwesen die richtungsweisenden Impulse setzen, sondern das Leben selbst, und sei es in einer beschädigten, ständig in Frage gestellten Form. Gleichzeitig halten sich das abstoßend Befremdliche und die trotzige Hoffnung auf ein besseres Miteinander die Waage. Es gibt nicht viele Romane, die derart haarscharf auf der Grenzlinie zwischen Dystopie und Utopie balancieren.

Elisabeth Klar Es gibt uns
Roman.
Salzburg, Wien: Residenz, 2023.
192 S.; geb.
ISBN 978-3-7017-1769-9.

Rezension vom 21.02.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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