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Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe

Gerhard Roth

// Rezension von Daniela Bartens

Wie fühlt es sich an, wenn schlagartig alles anders ist? Wenn von einem Tag auf den anderen der vermeintlich sichere Boden unter den Füßen wegbricht? In einer solchen Situation befindet sich Lilli Kuck nach dem plötzlichen Sturz-Tod ihres Mannes in Venedig. Mit dem Roman Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe schließt Gerhard Roth seinen dreiteiligen Zyklus über die Serenissima ab, der mit Die Irrfahrt des Michael Aldrian (2017) und Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier (2020) eine Art venezianisches „Triptychon“ bildet.

Wobei der erste Roman mit dem nach einem Hörsturz nunmehr in seinem „zweite[n] Leben“ (49) als Illusionskünstler angekommenen Ex-Souffleur Aldrian und der jüngst erschienene über die Kunsthistorikerin Lilli Kuck, die auf den Spuren ihres in Venedig umgekommenen Ehemannes, eines Comic-Künstlers, Aufklärung über dessen mysteriösen Tod erhofft, einander vielfach spiegeln und kontrastieren. Einmal aus der Männer-Perspektive des (Hobby-)Zauberers und nun – erstmals bei Roth – aus dem Blickwinkel einer weiblichen Hauptfigur geschrieben, brechen die beiden Figuren unabhängig voneinander vom Wiener Heumarkt (der Wiener Wohnadresse ihres Autors) nach Venedig auf, wo sie in einem Labyrinth aus verbrecherischen Machenschaften ihren je eigenen Höllensturz erleben und im letzten Band schließlich aufeinandertreffen. Die beiden Irrfahrt-Romane gruppieren sich als Seitenflügel um das zentrale, schon im Titel Shakespeares Der Sturm zitierende Mitteltableau Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier, in dem der seines Lebens überdrüssige Übersetzer Lanz, gerade als er diesem Leben durch einen Kopfschuss ein Ende bereiten will, zum Zeugen eines brutalen Mafia-Mordes wird, der ihn in ein David-Lynch-artiges Kopfkino versetzt, von dem unklar bleibt, ob dieser venezianische Lost Highway mit seiner Sturzflut an Bildern den „last way“ seines Protagonisten nachzeichnet. Ob also der Selbstmord gelungen ist und die Geschehnisse die Überfahrt des Über-Setzers vom Diesseits in ein Jenseits-Reich in extremer Zeitdehnung darstellen, oder ob Lanz in der Fiktion überlebt und in der Folge über einen seltsam ungreifbaren, greisenhaft-väterlichen Gönner namens Egon Blanc (übersetzt: „Ich Weiß“) den für ihn paradiesischen Auftrag, das Gesamtwerk Shakespeares zu übersetzen, tatsächlich erhält und sich sogleich an jene Übersetzung von Shakespeares Der Sturm macht, in der er sich in der Sturm-Paraphrase „Die Hölle ist leer…“ als Fiktion in der Fiktion ja bereits befindet – sodass das Übersetzen zu einem Akt der Selbstfindung wird, in dem Leben und Kunst, Außen und Innen konvergieren und in einer Art Endloslooping das Ende in den Anfang übergeht und der Tod sistiert wird. Gerade das Über-Setzen durch Übersetzen (der eigenen wie der großen Menschheitsthemen) aus dem Diesseits des Lebens in das Jenseits der Kunst scheint dabei zu einer Überlebensfrage zu werden.

Aldrian und Lanz, wie auch einige weitere zentrale Figuren der ersten beiden Romane, treten im dritten Teil des Zyklus wieder auf und treffen aufeinander, wodurch der Realitätsstatus auch in den beiden vordergründig realistischer erzählten Seitenflügeln des Triptychons unsicher wird. Konsequent offen bleibt nämlich, ob wir uns in einem bizarren Jenseitsreich befinden, das – wie die Triptychen von Hieronymus Bosch, auf die bereits im ersten Teil des Zyklus mehrfach verwiesen wird (vgl. IA 158f., 239) – Merkmale der zeitgenössischen Wirklichkeit aufweist, oder mit den Protagonisten im Spiegelkabinett der venezianischen Wirklichkeit umherirren, die immer wieder Züge einer „anderen Realität“ annehmen kann, oder aber – wofür einiges zu sprechen scheint – je nach Gefühlslage der Figuren mehrere Parallelwelten gleichzeitig bewohnt werden können: Diesseits- und Jenseitsreiche, Paradiese und Höllen, innere und äußere Welten, berufliche und private.

Lilli Kuck, Angestellte des Wiener Kunsthistorischen Museums, gerät durch den rätselhaften Tod ihres Ehemannes, der „in Venedig über eine Brückentreppe gestürzt“, nach Österreich überführt worden und dort, „ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben“ (9) gestorben ist, in eine solche Jenseits-Welt, in der es ihr förmlich den Boden unter den Füßen wegzieht. Nicht nur, dass sie – „plötzlich einsam wie noch nie in ihrem Leben“ (16) – ihre Gegenwart und den Eindruck, dass „sie sich gerade auflöste und allmählich verschwinden würde“ (18) in einem Nebel aus Schlaf- und Beruhigungsmitteln und unzähligen Aperol-Spritz betäubt, bietet ihr auch die gemeinsame Vergangenheit mit Klemens keine Sicherheit mehr. Scheint er doch ein Doppelleben geführt zu haben, von dem Lilli keine Ahnung hatte. Vorgeblich für Recherchen an seinem neuen Kriminal-Comic in einem Hotel im Zentrum wohnend, war er, wie sich herausstellt, „in keinem Hotel und keiner Pension gemeldet gewesen“ (9). Was also hatte er in Venedig gesucht und war dabei eine andere Frau im Spiel gewesen?

Soweit die Ausgangslage, die bereits auf der ersten Seite des Texts mitgeteilt wird, und Lilli Hals über Kopf nach Venedig aufbrechen lässt, um sich vor Ort Gewissheit zu verschaffen. Mit im Gepäck die in Spiegelschrift verfassten Hefte mit Klemens‘ Kindheitserinnerungen sowie ein ihr von einem Unbekannten zugesandtes, in gleicher Weise chiffriertes Notizbuch mit den Aufzeichnungen, die ihr Mann vor seinem Tod in Venedig gemacht hat und mit deren Hilfe sie nun seine Wege nachgeht und, indem sie seinen Spuren folgt, nach und nach zu sich selbst findet. Und während sich sukzessiv die eigentlichen Lebensthemen klären, die Frage nach der eigenen Herkunft, dem Geworden-Sein und daraus resultierenden So-Sein, wie man eben ist, löst sich wie nebenbei auch jener Kriminalfall mit den unzähligen toten Polizisten, in den Klemens – und in seinem Gefolge auch Lilli – auf jener ganz anderen Suche hineingestolpert war und dabei – wie bei einem Terroranschlag zufällig zur falschen Zeit am falschen Platz – durch eine Verwechslung sein Leben lassen musste.

Der gesamte Text ist – wie Klemens‘ vermutetes Doppelleben – durch Verdoppelungen und Vertauschungen, Spiegelungen, Paralleluniversen, Verstellung, Täuschungen und Zauberei strukturiert. Klemens belügt seine Frau über seinen Aufenthaltsort und verschweigt die wahren Motive seiner venezianischen Recherchen. Lilli täuscht mehrfach den ermittelnden Kommissar und gibt ihrer Familie gegenüber vor, in Padua zu sein, jenem Ort, den der in allen drei Romanen anwesende (im dritten, nach den Vorfällen im zweiten Band, vom Dienst suspendierte) glücklose Kommissar, Francesco Galli, in jungen Jahren seiner schwangeren Geliebten als Wohnort angegeben hatte, bevor er sich aus seiner Vaterrolle davonstahl und von der Bildfläche verschwand. Aber auch die schwangere Geliebte verabschiedet sich aus ihrer Mutter-Rolle und ist nicht die Heilige, als die sie sich ihrem späteren Ehemann gegenüber ausgibt. Jeder hat Geheimnisse, die er auch den engsten Vertrauten gegenüber für sich behält. Jeder lügt und erfindet „zweite“ Wirklichkeiten, Parallelwelten, die wie die venezianischen Masken oder die Fassaden der Paläste zugleich etwas zum Ausdruck bringen und etwas Anderes verbergen. „Die Lüge gehörte zum Leben wie die Wirklichkeit und der Traum“ (135), heißt es an einer Stelle. Shakespeare wird dabei für den Roman wie für den gesamten Zyklus insofern zu einem Bezugspunkt, als in seinen Stücken die „Widersprüchlichkeit“ des Menschen eindrucksvoll zum Ausdruck kommt: „Die Innen- und Außenwelten seiner Figuren befinden sich in einem ständigen Wechselspiel. Sie morden, sie hoffen, sie hassen und verlieben sich, und sie verhalten sich […] wie Mitglieder von Sekten … wenn sie einmal eine Ideologie […] angenommen haben“ (150), wie der Shakespeare-Übersetzer Lanz in dem auf San Erasmo spielenden Jenseits-Kapitel „Im Paradies“ ausführt, in dem das Hauptpersonal aller drei Romane zusammenkommt – wie vorher nur einmal in der „anderen Realität“ einer Zaubershow für Jugendliche mit „besonderen Bedürfnissen“, in der Aldrian den „Zauberer“ und der Über-Setzer Lanz bezeichnenderweise den „Engel“ (92) verkörpern. Und immer, wenn sich andere Wirklichkeiten auftun, scheint im Hintergrund jener ominöse Egon Blanc mit seinen wohltätigen Stiftungen die Fäden zu ziehen, von denen Lanz behauptet, dass auch sie als „Ideologie[n] des Guten“ „Sekten“ bilden und sich nach jenem in Shakespeares Werken zum Ausdruck kommenden „Gesetz“ (151) der Mimikry verhalten. Und Lanz‘ zentrale Aussage, dass Shakespeares Stücke zugleich „Selbstanalysen des Autors“ und – oder vielleicht gerade dadurch – „Analysen der Menschheit“ (149) seien, gibt, als Selbstkommentar Roths gelesen, zugleich einen Rezeptionshinweis für die Entschlüsselung des venezianischen (Kriminal-)Falles. Ist doch – von Kommissar Galli über Klemens bis zu Lilli – die detektivische Suche im Außenraum immer erst dann von Einsichten gekrönt, wenn sich die Ermittler mit all ihren Widersprüchen als Suchende in eigener Sache begreifen.

Es scheint, als würde der labyrinthische Spiegel-Kosmos mit seinen Doppelungen geradewegs aus dem menschlichen Kopf entspringen und im venezianischen Gassen- und Kanallabyrinth mit seinen filigranen, sich im Wasser spiegelnden Palästen und flirrenden Wasseradern eine kongeniale Entsprechung im Außenraum finden: „Das Gehirn, hatte er ihr erklärt, sei ein Labyrinth, eigentlich ein doppelter Irrgarten infolge der beiden Hälften, die ’spiegelsymmetrisch‘ gebaut seien. Er wusste sogar, dass es mit zwei verschiedenen Bewegungssystemen ausgestattet ist. Eines diene kleineren Bewegungen wie dem Schreiben, das andere den Bewegungen des Körpers, etwa beim Gehen.“ (35)

Schreiben und Gehen, Kunst und Leben, jenes ursprüngliche Zwillingspaar, bei dem eins sich im anderen spiegelt, kann wohl als die fundamentale Doppelung des Texts wie des gesamten Triptychons verstanden werden, an deren Auflösung als Überlebensmöglichkeit Roth mit unterschiedlichsten Schreibstrategien arbeitet, sodass schließlich die Kunst Leben wird und das Leben sich in der Kunst vollendet. Maria Lassnigs Selbstporträt „der nackten Frau mit den Pistolen in den Händen“ (183) mit dem Titel Du oder ich, das für die Kunsthistorikerin Lilli „in der ewigen Entscheidung zwischen Selbstmord und Mord“ (183f.) aus Sicht einer Frau den unablässigen Kampf zwischen Selbstaufgabe und Widerstand ausdrückt, wird in „Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe“ auch zu einem Sinnbild für jene Verschränkung von Kunst und Leben. „[D]enn die eine Waffe hatte sie auf sich selbst, die andere auf den Betrachter gerichtet“ (184), sodass die Selbstbezüglichkeit der Kunst durch die Zielrichtung auf das Leben aufgehoben wird.

Roths Roman inszeniert diese Verschränkung – auch als eine von Leben und Tod – in seinem Text vielfach, besonders eindrücklich, wenn Lillis labiler Zustand nach einem Kreislaufkollaps im Guggenheim-Museum sie beim dezentrierten Blick von unten in das Glasdach des Museumscafés das dort liegen gebliebene „Laub des Vorjahrs“ und die „dichten, frischgrünen Blätter der hoch darüberhängenden Äste“ mit den gerade gesehenen Bildern einer „Mark-Tobey-Ausstellung“ (163) überblenden lässt, eine Art Epiphanie-Erlebnis, welches in ihr den Eindruck erweckt, als sähe sie von unten auf eine von der Sonne beschienene, von brechenden, um sich selbst kreisenden Eisplatten gebildete Wasseroberfläche – was in der Folge wiederum jenes eine traumatische Kindheitserlebnis vor ihrem nächtlichen Auge wachzurufen scheint, als sie, beim Schlittschuhlaufen in ihrer Hamburger Heimat ins Eis eingebrochen, beinahe ertrunken wäre und ihr „an der Einbruchstelle über ihrem Kopf, durch die das Tageslicht schimmerte, ein helles Grün und silberne Luftbläschen“ auffielen und ihr „so wundersam“ (180) erschienen, dass sie reglos bewundernd wohl gestorben wäre, hätte das Bellen ihres Hundes mit dem Comic-Namen Goofy sie nicht ins Leben zurückgeholt. Und als endlich durch jene Initialzündung im Guggenheim-Museum das Eis gebrochen ist, kehrt schließlich, während sie auf den Spuren ihres verstorbenen Mannes wandelt, auch Lillis eigene Kindheit in einem Schwall wieder – sodass außen und innen tatsächlich ineinander übergehen.

Aber auch ihrem späteren Mann Klemens verschwimmen die Grenzen von Kunst und Leben. Schon seine Berufswahl als Comic-Künstler lässt sich als unbewusster Wunsch lesen, dem abwesenden leiblichen Vater nahe zu sein, war dieser doch dessen ganze Kindheit hindurch ausschließlich durch anonym zugeschickte Comic-Hefte in das Leben seines Sohnes getreten. Und ein Comic in einem Koffer – genauer gesagt das unvollendete Manuskript jenes Kriminal-Comics, an dem er zuletzt gearbeitet hatte und das seine eigene Geschichte, „alles, was ihm in Venedig widerfahren war“ (221), ins japanische Samurai-Milieu transferiert, spiegelt – ist es dann auch, worin Lilli chiffrierte Hinweise für eine Aufklärung der Zusammenhänge zwischen dem Tod ihres Mannes und jenem rätselhaften Kriminalfall, in den er auf seiner Vatersuche hineingeraten war, findet. Das Museo d’Arte Orientale im Ca‘ Pesaro spielt dabei eine Rolle – und eine schöne Fremde als Führerin durch das Museum und Reiseführerin in die japanische Kultur –, und in der Spiegelwelt des Comics selbst ein Samurai, der Seppuku, also rituellen Selbstmord, begeht, ein Shogun „voller Güte“ mit Zügen Egon Blancs, der „rätselhafterweise“ (220) aber auch Morde beauftragt, und ein Zwillingsbruder – Perfektionierung des unheilverkündenden Doppelgänger-Motivs.

Roth verschachtelt die unterschiedlichen Realitätsebenen, Traum, Halluzination, Kunst und waches Leben, derart gekonnt ineinander, dass trotz des realistischen Anscheins zunehmend fraglich wird, in welcher Realität wir uns befinden. Bildet der Comic als Fiktion in der Fiktion die fiktiven Ereignisse des Romans verschlüsselt ab oder wird umgekehrt nachträglich fiktive Wirklichkeit, was dort vorgezeichnet war? Ist der Zwillingsbruder Ausgeburt der Doppelungs- und Spaltungsfantasien des Texts oder existiert er in der Romanhandlung „real“? Weisen die zahlreichen Bewusstseinstrübungen Lillis, ihre Ohnmachten und Absenzen, darauf hin, dass alles nur geträumt ist? Schläft sie über der Lektüre von Klemens‘ Kindheitserinnerungen ein (wie im ersten Absatz des Romans angedeutet) und träumt sich in ein imaginäres Venedig, oder befindet sie sich in einem in der Fiktion realen Venedig, das mehr und mehr der Darstellung eines Jüngsten Gerichts ähnelt?

Wie die beiden Hunde mit den Comic-Namen „Goofy“ und „Struppi“ im Text unterschwellig eine in die Kindheit weisende Verbindung zwischen Lilli und Klemens andeuten, lässt sich vor allem der Markusdom mit seinen Mosaiken als Bindeglied zwischen der Kunsthistorikerin und dem Comic-Künstler lesen. Sehen doch beide unabhängig voneinander von Kindheit an in den immensen, die Schöpfungsgeschichte bis zum Jüngsten Gericht abbildenden goldenen Mosaiken ein „Paralleluniversum“ (26), das für Klemens „die gesamte Menschheitsgeschichte“ darstellt „oder, wie er sagte, ihre DNA“ (27) und für Lilli „ein Bild von einer anderen, für sie unsichtbaren Welt“ (190), von dem sie sich „geradezu hypnotisiert[…]“ (189) fühlt und welches „die Entstehung eines Ereignisses aus winzigsten Einzelheiten“ nachvollziehbar mache. Ein aus dem Jüngsten Gericht abgeblättertes Mosaiksteinchen, das Lilli aufhebt und in der Folge wie einen Talisman mit sich trägt, steht denn auch als zentrales Dingsymbol für jene Bindung an den verstorbenen Ehemann, wodurch zugleich die unterschiedlichen Wirklichkeitsbereiche, Diesseits und Jenseits, Kunst und Leben verlinkt werden und als metapoetischer Kommentar auf die sozusagen atomistische Methode der Zusammensetzung verwiesen wird.

Auch die überbordende Koffer-Symbolik des Texts mit ihren Verschachtelungen – von den vertauschten (vgl. 21) bis zu den verschwundenen (vgl. 51) Koffern, von Aldrians „Zauberkoffer“ (52) im „Sargzimmer“ (25) des Hotels über den leeren Koffer im „Paradies“-Kapitel (vgl. 147) bis zu dem nach Klemens‘ Tod in seinem Versteck in Venedig zurückgebliebenen Koffer (vgl. 60) mit dem Samurai-Comic (219f.) – weist als ein solches Mosaiksteinchen darauf hin, dass jene Suche als Reise (in die Parallelwelt der Kunst) ausgestaltet ist, auf der eine Entwicklung von der Zauberkunst der „Mimikry“ (50) über die Kunstlosigkeit eines paradiesischen Zustands reiner Gegenwärtigkeit bis zu jener Kunst, die die eigene Geschichte im Gepäck hat und das Leben in der Kunst aufhebt, stattfindet. Die drei Koffer, die Lilli in ihrem Zimmer im paradiesischen Reich Egon Blancs auf San Erasmo findet (vgl. 147), stehen dabei als Kunst-Koffer auch für die drei Romane des Triptychons, die Roths „Jüngste Gerichtsvisionen“ über die drei Jenseitsreiche, Paradies, Hölle und Fegefeuer, in vielfältiger Verschränkung transportieren.

Wie aus Roths großen Zyklen Die Archive des Schweigens und Orkus bekannt, können auch diesmal die Bände sowohl einzeln als auch als Teile eines größeren Ganzen gelesen werden. Wodurch sich die in den Büchern propagierte Splitterästhetik mit ihrer kriminalistischen Hoffnung, „Steinchen für Steinchen würden sich die kleinsten Erkenntnisse zusammensetzen und zuletzt ein Mosaik bilden“ (74), auf der Makroebene wiederholt: jedes labyrinthische Roman-Mosaik ein neues Mosaiksteinchen auf der Suche nach dem großen Ganzen, welches sich freilich als Fiktion erweist. Denn jeder einmal gefundene Weg aus dem Irrgarten der großen Menschheitsfragen führt unweigerlich in neue Labyrinthe, die neue Lösungswege erfordern. Und wie sich die Steinchen nur aus bestimmten Blickwinkeln zum sinnvollen Ganzen und aus unterschiedlichen Perspektiven zu verschiedenartigen Bildern formieren, so lässt sich ein Gesamtbild immer nur näherungsweise aus Teilansichten gewinnen. Sodass die Romane zunächst zu Zyklen und schließlich zum Mosaik eines singulären Lebens-Werks zusammentreten, das – ganz auf ein einzelnes Bewusstsein zugeschnitten – dieses in seinen labyrinthischen Windungen nach außen projiziert und dadurch entzifferbar macht, sodass – wie in den selbstreferenziellen Schleifen, die die einzelnen Texte beschreiben, – Schöpfer und Schöpfung, Autor und Werk tendenziell in eins fallen.

Roths Venedig-Zyklus ist der Versuch, Leben (auch das eigene) aus dem je subjektiven Blickwinkel in all seinen Facetten – Liebe und Tod, Vordergründigem und Verborgenem, den Wünschen, Träumen, hochfliegenden Projekten, Wahrnehmungen und (Selbst-)Täuschungen, den Glaubensdingen und Herzensangelegenheiten, Grausamkeiten, Gewalttaten, Macht- und Ohnmachtsgefühlen und deren Interpretation in Mythen, Märchen, Kunst und Wissenschaft – nicht so sehr auf den Punkt, sondern vielmehr wie einzelne Mosaiksteinchen eines gigantischen Multiversums, in dem eins das andere spiegelt, als Schöpfungsprozesse zu Papier zu bringen. „Durch den Drang, möglichst viele Geschichten darzustellen, sei es […] allerdings zu einer ‚Zerstückelung‘ in einzelne Bilder gekommen, so dass die ‚Entzifferung‘ aller Erzählungen und Details schwierig sei […] Signor Blanc liebte das Burgkloster angeblich aber gerade deswegen“ (242), heißt es bezugnehmend auf die „phantastischen Fresken“ an der Fassade des rumänischen Burgklosters Sucevi?a gegen Textende.

War in den früheren Zyklen der Hauptfokus auf das Hineinreichen einer (Verbrechens-)Geschichte von der Habsburgermonarchie bis zum „Dritten Reich“ in die österreichische Gegenwart gerichtet, so geht es im jüngsten Venedig-Zyklus um die Gegenwart aus der Perspektive der „letzten Dinge“, um die Schöpfung, die ihren Schöpfer überlebt und in der er zugleich weiterlebt. Der Fülle der Wimmelbilder Tintorettos, die – wie die Mosaiken im Markusdom – die biblische Heilsgeschichte nachbilden, wird an zentraler Stelle im Roman ein „billiger leerer Goldrahmen“ (121) in der Kirche der Madonna dell’Orto gegenübergestellt, der – nach dem Raub des dort ursprünglich gezeigten Gemäldes von Giovanni Bellini zurückgeblieben – Lilli zugleich als „Darstellung der Abwesenheit von Gott“ (121) und Abbild der eigenen „Leere“ erscheint. Die Frage, „mein Vater, mein Vater, warum hast du mich verlassen?“, die alle Figuren in „Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe“ gleichermaßen umtreibt, entwickelt jedoch ihr zerstörerisches Potenzial, wo im Namen imaginärer Vaterfiguren reale Auseinandersetzungen um Leben und Tod ausgetragen werden. Im Kampf des reichen alten weißen Mannes mit Gedächtnislücken, Egon Blanc, gegen seinen eigenen „Halbbruder“ (234) mit dem sprechenden Namen Jeremias (= Zerstörer der Heilsgewissheit) Hainer (Freund Hain = der Tod), der – entsprechend der Gattungsvorgabe – als Bandenkrieg zwischen Gut und Böse, bei dem am Ende das Gute siegt, dargestellt ist, werden, wie häufig im Fall jener „Ideologie[n] des Guten“ (151), indem das Böse, der Tod, besiegt werden soll, paradoxerweise haufenweise Leichen produziert. Der Schluss des Romans zeigt sich dann aber geradezu auffällig versöhnlich als „Ende eines Märchens“ (229), in dem alles zauberhaft gut wird und – gemäß der Märchenformel „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“ – der Tod (in der zyklischen Reise in die Fiktion) besiegt ist und das Ende in einen neuen Anfang mündet: „Das Gold um sie herum war nicht blitzend oder leuchtend, sondern geheimnisvoll dunkel, ein Gold – wie sie es für sich formulierte –, das schlief und Mosaiken träumte. Ihr erschien es, als ob sie in eine Welt nach dem Tode blickte. Die Mosaiken begannen sich jetzt in ihrem Kopf lautlos zu bewegen und lebendig zu werden.“ (28)

Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe.
Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2021.
256 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-10-397214-6.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 16.06.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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