#Roman

Erzähl es den Bäumen

Edie Calie

// Rezension von Andreas Tiefenbacher

Angeblich lebt Katharina Neugebauer, genannt Kat, in einem selbstgebauten Camp im Bialowieza-Nationalpark in Polen. Das behauptet zumindest ihr Ehemann Tobias, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, den ganzen Tag Bier trinkt und kifft und sie alle sechs Wochen dort besucht und mit Proviant und Ausrüstung versorgt.

Eigentlich ist es ja verboten, sich in diesem Wald, der sich auf beiden Seiten der Grenze zwischen Belarus und Polen erstreckt und zu den letzten Urwäldern Europas zählt, alleine aufzuhalten, weil er ein Naturschutzgebiet ist. Die Strict Protection Area sollte man ausschließlich mit einem lizenzierten Guide betreten. Außerdem darf man hier weder rauchen noch schreien, „keine Tiere anfassen, keine Pflanzen oder Pilze ausreißen, keinen Müll hinterlassen, auch keinen Urin“.
Obwohl ständig Wildhüter patrouillieren, scheint Kat, die bereits als Kind Alltagsgeräusche für Krach gehalten und in einer Fantasiesprache mit Tieren und Spielzeug, dem Waschbecken oder der Klobürste geredet und in Bücher hineingeflüstert hat, um die Hauptfigur aufzumuntern, bislang unentdeckt geblieben zu sein.

Seit sie sechzehn und von zuhause ausgezogen ist, lebt sie von wenig Geld lieber unabhängig am Rand der Gesellschaft als abhängig von ihrer Mutter. Mit ihrer Art, jedem die Meinung zu geigen und „das Messer direkt ins Fleisch“ zu bohren, ist sie schon im Gymnasium aus der Reihe getanzt.
Nach dem Studium übt sie ihren Job im Hotel Vollzeit aus, bis Körper und Geist darunter zu leiden beginnen und sie irgendwann findet, dass von den knarrenden Dielen und verstreut im Haus herumstehenden Bäumchen ein Lärm ausgeht, der ihr Schmerzen verursacht. Sie spaziert, weil ihr Schuhe und Socken weh tun, einfach nur noch barfuß herum; hört in der Dusche unangenehme Geräusche und vernachlässigt deshalb Körperpflege und Äußeres; muss wegen des „Baumlärms“ auch noch ständig weinen und gebärdet sich, wie man es nur von verwirrten Obdachlosen und Junkies kennt, weshalb sie fristlos entlassen wird.

Es sind „auditive Halluzinationen“, die sie plagen. Kat erträgt sie unter Schmerzen, manche sprengen ihr regelrecht das Hirn. Einzig das Meditieren in Parks und Wäldern hilft. Das lernt sie bei den Brides of Terra, einer kleinen Gruppe von „Licht-und-Liebe-Naturfreaks“, die eine Pflanze als ebenbürtigen Partner zu sehen und die energetische Verbindung von menschlichen Erdenbewohnerinnen und Bäumen zu kultivieren versuchen. Bei einem alten Baum im Naturpark Blockheide im Waldviertel merkt sie schließlich, dass sie mit Bäumen „kommunizieren“ kann und findet dadurch endlich wieder Ruhe und inneren Frieden. Ähnliches gelingt ihr auch im Bialowieza-Nationalpark, wo sie mit ihrem Mann urlaubt, während sie in der Stadt sofort in Apathie verfällt und die ganze Zeit nur teilnahmslos herumliegt.

Tobias ist mit diesem Zustand überfordert; erst recht, als sie zu seinem Geburtstag das Wohnzimmer ausräumt, darin Erde verstreut und Sträucher sowie Bäume pflanzt. Er fährt mit ihr daraufhin wieder in diesen Nationalpark, wo sie seitdem lebt und es ihr gut geht, muss sie doch hier auch keine oberflächlichen Gespräche führen oder sich mit Gesellschaft und Familie herumärgern.
Ihre Mutter lässt sie allerdings von einem Privatdetektiv suchen, der glaubt, Kat sei mit einer Überdosis tot aufgefunden worden.
Es kursieren aber auch noch andere Gerüchte: Kat sei mit fettigen Haaren und dreckiger Kleidung herumgelaufen, habe Wahnvorstellungen gehabt, sei irgendwann durchgedreht und „in der Klapse gelandet“; oder arbeite als Hundesitterin auf Kreta; oder habe einen Mann mit drei Kindern sitzen gelassen und sei nach Südamerika ausgewandert.

Der 31jährigen Martina Hölderlein, die mit ihr ins Gymnasium gegangen ist und sich immer die Anerkennung der „coolen Kat“ gewünscht hat, lässt das Schicksal ihres Jugendidols keine Ruhe. Sie, die nach dem Abbruch ihres Studium als Journalistin bei der Potsdamer Allgemeinen Zeitung arbeitet, wittert eine buchtaugliche Story, ja sieht das Ganze als „Ticket“ in die Literaturwelt und ideale Gelegenheit, sich von einer unbefriedigenden, stressigen Arbeitssituation zu befreien, die jeden, der nicht durch die Redaktion hetzt, sofort verdächtig macht, faul zu sein.
Nachdem ihr aber kein „handfestes Material“ zur Verfügung steht, sondern nur „Vermutungen, veraltete Fakten und Lügen“, führt Martina Gespräche mit Kats Freundin Morticia, mit der Mutter, die behauptet, ihre Tochter sei kürzlich verstorben, mit Kats Ex-Chefin aus dem Hotel sowie mit dem Gründer von Brides of Terra.
Es gelingt ihr auch, das Vertrauen von Kats Ehemann Tobias zu gewinnen. Ihn darf sie sogar in den polnischen Urwald begleiten, um Kat zu treffen. Doch an der vereinbarten Stelle taucht nur ein Wildhüter auf, der die beiden verscheucht.

Edie Calie erzählt diese sich zu einem Waldabenteuer auswachsende Selbstfindungsgeschichte aus der Perspektive der Journalistin Martina Hölderlein, die in die widersprüchlichen Thesen über das Verschwinden ihrer ehemaligen Schulkollegin Klarheit bringen sowie den miserablen Arbeitsbedingungen bei der Zeitung oder dem festen Kinderwunsch ihres Freundes Klaus entkommen will. Martina begibt sich deshalb auf Recherchefahrt, die ihr über die räumliche Distanz auch herauszufinden hilft, dass Mutter werden nichts für sie ist; dafür aber in den Wald ziehen möglicherweise die Lösung für alles wäre: „Keine Miete mehr zahlen, keine Einkäufe tätigen, keine nörgelnden Chefs und Partner, keine Verpflichtungen, keine Erwartungen. Nur mehr Ruhe und Frieden der Natur.“

Die Suche nach Kat wird so auch zur Reise in die ungeahnten Weiten des eigenen Ichs. Und sie belebt in spannungsfördernder Weise die Handlung, die durch ihre genauen Beschreibungen, ihren Abwechslungsreichtum und Informationsgehalt einiges zu bieten hat. Ob es nun die feinfühligen Überlegungen zu Natur und Gesellschaft oder die Darstellung von Arbeitsbedingungen in der Hotellerie und ihrer Auswirkungen auf das menschliche Individuum sind, Peter Wohllebens Buch „Das geheime Leben der Bäume“ (im Text als Kats Bibel ausgewiesen, die sie liebt) oder das als Schauplatz dienende Naturschutzgebiet, man erfährt einiges: Dass Marienkäfer alle 18 Stunden Sex haben; Waldspitzmäuse im Winter kleiner werden; Albinismus und psychische Erkrankungen auch bei Tieren auftreten können; Spitzhörnchen in Malaysia jede Nacht alkoholhältigen Palmennektar trinken, der in etwa 12 Gläsern Wein entspricht; es nicht nur betrunkene Tiere, sondern auch betrunkene Bäume, sogenannte drunken trees gibt; positiv denken „Bullshit“ ist; die Seestadt in Wien aus lauter „Gräueltaten gegen die Menschheit“ besteht; Karriere auf die Frage des Geldes reduziert werden kann und die Unsensibilität des Menschen gegenüber der Natur unbedingt beseitigt gehört.

Immer wieder wird auf die Magie und Anziehungskraft von Bäumen verwiesen. Ihre therapeutische Kraft ist am Ende auch für Martina Hölderlein greifbar, kann sie sich doch ernsthaft vorstellen, dass einen in diesem Urwald in Polen der Wunsch packt, „sein Leben hinter sich lassen und ganz mit dem Wald verschmelzen“ zu wollen.
Neben dieser gedanklichen Tiefe zeichnet sich der aus der Perspektive der Journalistin erzählte Roman auch durch einen locker-leichten, ironisch-witzigen Ton aus. Man darf zudem einiges lesen, das der Ich-Erzählerin durch den Kopf geht, das sie aber nicht aussprechen will. Es ist im Text kursiv gesetzt.
Geschildert wird in Rückblenden in die Vergangenheit. Dazwischen tauchen durch römische Zahlen gekennzeichnete kurze Notate auf, die von Kat stammen könnten.

So verrückt und unangepasst ihr Lebensentwurf auch sein mag, eines lernt man von Kat und ihrem Mann Tobias auf jeden Fall: Wie absolut richtig es ist, „dass man in der Liebe Platz macht für das Glück des anderen“.

Edie Calie Erzähl es den Bäumen
Roman.
Wien: Milena,  2022.
288 S.; geb.
ISBN 978-3-903184-84-8.

Rezension vom 27.04.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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