#Sachbuch

Erste Erde. Epos

Raoul Schrott

// Rezension von Walter Fanta

Das Unternehmen von Raoul Schrott mag vor allem bei Kollegen in der Zunft Vorbehalte auslösen. Die Geschichte des Kosmos vom Urknall bis zur Gegenwart mit dichterischen Mitteln gestalten zu wollen, das ist eines Großschriftstellers Dr. Paul Arnheim alias Walther Rathenau würdig. Das ist die Figur des Polyhistors, des Alleswissers und Besserwissers, die in Musils Mann ohne Eigenschaften nicht gerade gut weg kommt.

Das Ansinnen allein schon mutet als intellektuell-künstlerische Hochstapelei an. Der Rezensent muss fürchten, dass es ihm wie Robert Musil ergehen werde, als er sich bereit erklärte, Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes zu rezensieren; Musils Essay Geist und Erfahrung von 1921 trägt den vielsagenden ironischen Untertitel „Anmerkungen für Leser, die dem Untergang des Abendlandes entronnen sind“. Was Musil Spengler vorwirft, fasst er selbst so zusammen: „Ich hatte mir versprochen – ich rezensiere ja nicht – am berühmten Einzelfall Zeitfehler zu demonstrieren. Oberflächlichkeit; Mantelwurf der Geistigkeit, unter dem die Gliederpuppe steckt; Überfließen einer lyrischen Ungenauigkeit in die Gevierte der Vernunft.“ Ganz am Ende steht noch ein versöhnliches Wort: „Und Oswald Spengler erkläre ich öffentlich und als Zeichen meiner Liebe, daß andre Schriftsteller bloß deshalb nicht so viele Fehler machen, weil sie gar nicht die beide Ufer berührende Spannweite haben, um so viele unterzubringen.“ – Der hier schreibt, rezensiert auch nicht, denn er hält es für unmöglich, zu Raoul Schrotts Epos Erste Erde in ein paar Wochen eine Besprechung zu verfassen. Ich kann keine Zeitfehler demonstrieren und will keine lyrischen Ungenauigkeiten in den Gevierten der Vernunft nachweisen. Ich möchte nicht Musil sein, sondern bescheiden bleiben. Ein einfacher Mensch, der sich mit Raoul Schrotts Opus Magnum selbst ein Buch unter den Weihnachtsbaum legen wird, in dem er dann ein Jahr und vielleicht noch eines mit Gewinn und Vergnügen über Dinge liest, die „man wissen muss“ (Schwanitz, Bildung), in einer Form, die Schwanitz bei weitem überragt.

Noch einmal greife ich aber auf Musil zurück. Es sei nicht üblich, in einer Dichtung von Zahlen zu sprechen, schreibt er. Aber die Zeit sei gekommen, in der man es tun müsse. „Der Mensch koitiert bloß, aber die Geschichte muß mit den Bevölkerungszahlen etwas anfangen.“ Wer muss etwas mit den Zahlen, Daten, Fakten anfangen? Die Geschichtsschreibung, in ihrer Grande Narration. Für Musil war es die Statistik, die Wahrscheinlichkeitsrechnung, deren Ergebnisse es zu episieren galt. Für Schrott ist es viel mehr: die Astronomie, die Nuklearphysik, die Chemie, die Biologie, die Paläontologie, die Prähistorie, die Historie… Das Ziel ist es, ein Verfahren zu finden, welches die kosmischen Vorgänge und die geschichtlichen Prozesse vor und außerhalb der Sphäre des menschlichen Bewusstseins in einer poetischen Form zur Sprache, in eine Erzählung bringt: die Entstehung des Universums, die Entstehung des Planeten Erde, die Entstehung des Lebens auf ihm, die Enstehung der species homo sapiens. Was Schrott sich in den Kopf gesetzt hat, geht als Maximalprogramm aus einem Grundanliegen der literarischen Moderne hervor: die erzählsprachlichen Verfahrensweisen der Literatur zu versachlichen, den eingeschränkten Horizont der subjektiven Wahrnehmung zu überwinden, die Sprache der Poesie zu einem Instrument der Dokumentation meta- und intersubjektiver Wirklichkeit weiter zu entwickeln. Diese Anstrengung geht bei Schrott aber einher mit einem bemerkenswerten Versuch zur „Rettung des Ichs“, die Grande Narration des kosmischen Naturprozesses bekommt subjektive Erzählinstanzen zugewiesen, so wie den Dichter selbst, Raoul Schrott, der auf Reisen war, rund um den Globus Schauplätze und Menschen besucht hat, die heute noch von den kosmischen und erdgeschichtlichen Vorgängen zeugen. Und außerdem gibt Schrott den Forschern und Forscherinnen aus den unterschiedlichsten Disziplinen selbst eine Perspektive, erhebt sie zur Erzählinstanz, er tut dies in einer äußerst kunstvollen Weise, indem er Biographisches und Forschungsgeschichtliches miteinander verwebt. Damit nicht genug, setzt er seiner Kosmogonie mit einem Anhang einen bedeutsamen, höchst lesenswerten Kontrapunkt. Dort ist auf fast zweihundert Seiten „unser Wissen von der Entstehung des Universums, der Erde, des Lebens, und des Menschen“ in der Manier eines Sachbuchs zusammengefasst. Das gesamte angewandte Verfahren seines Epos‘ beschreibt Schrott in seinem Vorwort: „Da ist das Verlangen, möglichst viel über die Welt zu wissen […]: erst die Fiktion der Literatur bringt sie über ein Ich in Verbindung  – löst dieses jedoch wieder auf, in Buchstaben und Laute, in alles ringsum […].“ Die außerordentliche Anstrengung und der Aufwand haben sich bezahlt gemacht, das monströs anmutende Arrangement hat ein faszinierendes Ergebnis generiert, welches sowohl bei der Lektüre Genuss bereitet als auch Erkenntnis verschafft.

Damit sich die Leserinnen und Leser das „Organisationssystem“ dieser ganz besonderen „Dichtung“ konkret vorstellen können: „Erste Erde“ ist ein typographisch exzellent gestalteter Band von 850 Seiten, unterteilt in Buch I bis Buch VIII (es enthält den besagten Sachbuch-Teil), der Epos-Teil ist in 28 Abschnitte gegliedert. Die Anordnung von Buch zu Buch und von Abschnitt zu Abschnitt folgt der Geschichte des Kosmos chronologisch, das Epos beginnt mit der Entstehung des Kosmos: „Erstes Licht“ – „Erste Sonnen“ – „Erste Materie“ – „Erste Erde“. Ohne dass dieses Prinzip genau eingehalten würde, könnte man doch sagen, die Darstellung erfolgt anfangs objekt-sprachlich – das heißt: mit den Mitteln experimenteller konkreter Poesie und Montagen aus Mythologien – und dann langsam, nach der Entstehung des ersten Lebens (Buch III, Abschnitt 9: „AUTOPOIESIS“) zunehmend subjekt-sprachlich – das heißt, mit Ausdrucksformen der modernen erzählenden Prosa. Vor der Entstehung des Menschen schildert Buch VII, Abschnitt 24 die „Primaten“. Die Ankündigung im Inhaltsverzeichnis sei hier in extenso zitiert, weil damit die Erzählanlage deutlich sichtbar wird:

„Die deutsche Verhaltensforscherin Anja Magall führt Christopher Suddendorff, Vorstandsmitglied eines Schweizer Pharmakonzerns, im Winter 2014 durch die Affengehege des Leipziger Zoos. Fasziniert vom Solitären der Orang-Utans und den Gruppendynamiken der Schimpansen und Bonobos, entspinnt sich darauf zwischen beiden in Mails und Telefonaten ein Dialog über die Natur des Menschen: was ihn von den anderen Primaten unterscheidet, in welchem Mass Gruppenstrukturen und Revieransprüche Macht und Gewalt erklären, wie ehrlich wir in unserer Janusköpfgkeit sind und wo die Liebe ansetzt.“

Wie diese Inhaltsangabe umgesetzt ist, erfahren Sie aus unserer (S. 550-553). Der Email-Flirt zwischen dem Pharmakonzern-Manager und der Affen-Forscherin mit der „seltsamsten Brautwerbung, die mir je untergekommen ist“ geht bis an die Grenze des Kitsches, ohne sie aber zu erreichen, geschweige denn zu überschreiten. Die thematische Ebene – Unterschiede zwischen Tier und Mensch im Sexual- und Gruppenverhalten – und die Ebene der literarischen Vermittlung – das Genre moderner Liebesroman – bilden aufeinander bezogen eine abgestimmte Einheit. Das hier vorgeführte Beispiel repäsentiert sozusagen die unterste Schublade, hier erreicht das Epos die AlltagsleserIn. Das Entsprechungsprinzip findet aber auch auf der esoterischen Höhe zwischen Urknall / Erster Materie und Schöpfungspoesie der Maori seine Anwendung. Neugierde und Staunen, diese elementaren Lesertugenden werden abgerufen. Einmal erworben, wird Erste Erde im lebenslangen Fundus bleiben.

Raoul Schrott Erste Erde. Epos
Sachbuch.
München: Hanser, 2016.
848 S.; geb.
ISBN 978-3-446-25282-0.

Rezension vom 19.12.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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