Es ist ja nicht so, dass Andrea Kerns fiktionaler Selbstmörder in schlechter Gesellschaft wäre; die Liste von Schriftstellern, die sich selbstgewählt aus dem Leben verabschiedeten, ist lang. Das „Hand an sich legen“, wie Jean Améry das nannte, gelang meist unspektakulär wie bei Stefan Zweig (Überdosis Veronal) oder mit großer Geste wie bei Hemingway (hat sich selbst erschossen); und von Ernst Toller weiß man, dass er in seinem Reisekoffer stets einen Strick obenauf legte, für den Fall der Fälle.
Von dieser literarischen Tradition spürt man in Andrea Kerns Roman nichts, denn ihr geht es um die vielfältigen Emotionen, mit denen die Hinterbliebenen, also Ehefrau und Tochter fertig werden müssen; zu überraschend lässt der Tod des Vaters und Ehemannes die beiden allein zurück. Kern erzählt die Frage nach dem Warum in scheinbar wahllos aneinandergefügten Gedanken, Erinnerungsschnipseln, Zuschreibungen und anderen Wahrnehmungshäufchen, die am Ende ein stimmiges Bild ergeben sollen, wie man mit der Leere, die der Selbstmord von Leon hinterlassen hat, umgehen kann. Mara und Hannah versuchen durch diese Vielzahl an Möglichkeitsstimmen zu beschreiben, was nicht zu beschreiben ist. Es werden viele Innensichten ausgebreitet, die manchmal spekulativ, oft auch retardierend wirken.
„Realisierung. Leon hat sich getötet. Leon hat sich erhängt. Leon ist freiwillig aus dem Leben gegangen. Leon ist in den Tod gesprungen. Leon ist tot.“ (S. 223) SMS-Nachrichten stehen neben Romanauszügen aus Leons Arbeit (der Protagonist des Buches ist Legastheniker!), „Notizen an mich selbst“ neben Rückblenden. Die meist sehr kurzen Abschnitte erhöhen das Lesetempo, Andrea Kern versteht es geschickt, dieses collageartige Gebilde eines Textes – das sie Roman nennt – zu bauen, das Buch ufert allerdings manchmal zu sehr aus. Viele Worte für eine schmale Erklärung gegen Ende des Buches: „Am Ende haben wir nie etwas im Wort gefunden. Dabei war dein Vater Schriftsteller. Ein wortloser Schriftsteller. Hast du schon mal etwas Traurigeres gehört?“ (S. 243)
Andrea Kerns Roman hätte ein wenig mehr Prägnanz vielleicht gutgetan, ein Blick von außen, ein Korrektiv, denn so bleiben die zwei Frauen sehr nah an ihrer Hoffnungslosigkeit, ihrer Trauer, ihrer Wut, ihrer Ohnmacht; diese Gefühle versteht Kern literarisch stimmig zu beschreiben; das Buch hätte aber auch noch andere Sichtweisen vertragen. Der Autorin ist dennoch ein berührendes Buch zu einem schwierigen Thema gelungen.