#Sachbuch

Erfundene Welten - Modelle der Wirklichkeit

Markus Oliver Spitz

// Rezension von Alfred Pfabigan

Trotz seines schnellen und überraschenden internationalen Ruhmes gibt es bisher wenig systematische Sekundärliteratur zum Werk Christoph Ransmayrs. Markus Oliver Spitz schließt schon im Titel und im Untertitel an Uwe Wittstocks Aufsatzsammlung „Die Erfindung der Welt“ an, die sich wiederum auf Ransmayrs Kafka-Preis-Rede bezieht. In seiner Monographie opponiert Spitz jedoch entschieden gegen den auch in Wittstocks Sammelband sich artikulierenden Versuch, Ransmayr in einen Zusammenhang mit der Postmoderne zu bringen.

Nach einer knappen aber konzisen Analyse der äußerst heterogenen Bestimmungen von „Postmoderne“ zeigt Spitz, dass Ransmayr letztlich doch stärker in der Moderne zu verorten sei – seine von Technologie- und Utopieskepsis getragenen pessimistischen Aussagen zur zukünftigen Entwicklung der westlichen Zivilisation seien „ernst gemeint“ und entbehrten jeder Ironie, im Sinne Derridas sei er wohl ein „Logozentrist“ und plädiere keineswegs für ein freies Flottieren von Bedeutung. Das Subjekt sei in seinen Texten trotz einer Tendenz zur Fragmentierung immer noch präsent, seine Erzählweise, die Montagestruktur in „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ und die Kreisstruktur in „Morbus Kitahara“ – all das entstamme dem Fundus der Moderne. Der letztgenannte Roman (und auch mehrere Reportagen Ransmayrs) – und das ist wohl das allerstärkste Argument – zentriere die zeitgeschichtliche Erinnerung und sei keineswegs Nietzsches die Postmoderne stimulierendem Diktum von der Nützlichkeit des Vergessens verpflichtet und schon gar nicht Lyotards „Kampf gegen das Erinnern“.

Diese Positionierung Ransmayrs wäre auch in Aufsatzform leistbar gewesen, Spitz geht weiter und entwickelt ein ehrgeiziges Interpretationsmodell der „Erfundenen Welten“, das auf einem hermeneutisch – rezeptionsästhetischen Ansatz basiert, „welcher es unternimmt, die durch Werkstruktur und Wahrnehmungshorizont gleichermaßen gesteuerten wie begrenzten Assoziationen des (impliziten) Lesers mit dem strukturellen Geschehen der Romanwelten zusammenzubringen.“ (S. 25) Er konzentriert sich dabei weitgehend auf „Morbus Kitahara“, das er als „Kondensation“ von Ransmayrs durchaus eigenständigen Modus der „Welterfindung“ auffasst. Wichtig ist der Hinweis, dass die bisher weniger beachteten Reportagen mehr sind als Brotarbeiten oder Fingerübungen, sondern als „Anspielungshorizonte“ gelesen werden können, die das authentische Material für die „Erfindung der Wirklichkeit“ geliefert haben.

„Morbus Kitahara“ wird im Kontext des österreichischen Anti-Heimat-Romans gestellt. Hier gäbe es viele mögliche Refenztexte, Spitz nennt auch Thomas Bernhards „Italiener“, „Fasching“ von Gerhard Fritsch und Elfriede Jelineks „Kinder der Toten“, entscheidet sich dann aber dafür, die Analogien auf Leberts „Wolfshaut“ zu zentrieren. In beiden Büchern werden außergewöhnliche Individuen mit einer intoleranten Umgebung konfrontiert, wobei diese kollektive Aggression ihre Wurzel in der nationalsozialistischen Vergangenheit hat – „Heimat“ wird zum Ort einer unerbittlichen Erforschung dieser Vergangenheit. Ransmayrs „Moor“ ist allerdings um eine Stufe fiktiver als Leberts Handlungsort, das steirische Dorf „Schweigen“: in „Moor“ ereignet sich die – denkbare – „Zukunft“ einer – diskutierten – Option der Siegermächte aus der „Vergangenheit“; Ian Foster hat dafür die Formulierung von einer „alternative history“ verwendet. Der Teil über die soziologischen, politischen und historischen Aspekte „Moors“ wird dem Anspruch des Buches, nicht nur eine germanistische Facharbeit zu sein, sondern auch dem „gewöhnlichen“ Leser eine Orientierungshilfe zu geben, am besten gerecht. (Das gilt auch für die Information, dass das im Text angespielte „Nagoya“ als viertgrößte japanische Metropole massiven amerikanischen Bombardements ausgesetzt war und dass der Name des brasilianischen Exilortes „Pantano“ das portugiesische Wort für „Moor“ ist – ein Beleg für die behauptetet kreisförmige Erzählweise Ransmayrs.) Spitz rekonstruiert die denkbare Handlungsvoraussetzung – die Realisierung des „Morgenthau-Plans“ – genauso sorgfältig, wie die eingestreuten dunklen Parallelisierungen zur DDR. Sein „Moor“ beherbergt eine „kranke Gesellschaft“ im Sinne von Lévi-Strauss: materiell verelendet, ohne soziale Kohärenz, mit reduzierter Kommunikation, gewalttätig und moralisch verwüstet. Für diese Gesellschaft gilt der Basismythos der Zweiten Republik von Österreich als Hitlers „erstem Opfer“ nicht; es ist eine schuldige Gesellschaft, die – wie bei Lebert – ihre Schuld zwar leugnet, der sie aber durch die Bestrafung durch die Sieger unabweislich entgegengehalten wird. Doch hat diese „kranke Gesellschaft“ auch einen metaphorischen Charakter und thematisiert pathologische Entwicklungsmöglichkeiten, die jeder Vergesellschaftung innewohnen und die über den fiktiven Anlassfall hinausgehen.

Die „Krankheit“ dieser Gesellschaft wird am von Gewalt, Entfremdung und wechselseitiger Inkompatibilität bestimmten Verhalten der Protagonisten sichtbar. Doch gibt es – ungeachtet unseres fragmentarischen Wissens über die Geschichte von Lily, Ambras und Bering – keine haltbare Letztbegründung für ihr Verhalten, sie bleiben rätselhaft. Ransmayr baut Bilder und Konstellationen auf, die eine kurzzeitige Kohärenz herstellen, die er aber im weiteren Verlauf wieder zerstört – an diesem Verfahren scheint mir das hermeneutische Projekt des Interpreten mit seinem impliziten Anspruch, mehr zu wissen als der Dichter, gelegentlich zu scheitern oder widersprüchliche Ergebnisse zu zeitigen. In seiner Analyse der Namen der Protagonisten assoziiert Spitz etwa mit Lily die hebräische Elisabeth („Gott ist mein Eid“) und die babylonische Dämonin Lilith – doch das sagt uns wenig, denn bei seiner Darstellung der Geschlechterverhältnisse avanciert Lily zu einer Personifizierung der „new woman“ des George Bernard Shaw, die dem Naturkind Bering gegenübersteht. Ransmayrs Erzähler hat einen Informationsvorsprung vor dem Leser und vor den anderen Figuren – das Verhalten der Romanfiguren bezieht aus seiner Undurchschaubarkeit einiges von seinem Reiz für den Leser. Ransmayr hat nicht nur ein hohes schriftstellerisches Ethos („Ich muss so formulieren, dass jeder Satz hält und schon der erste die ganze Geschichte tragen kann“) sondern ist auch ein äußerst souveräner Erzähler – er selbst hat als einzige methodische Grundlage seiner „Erfindung der Wirklichkeit“ den Zwang benannt, die Geschichte sich selbst plausibel zu machen. Das ist eine deutliche Absage an eine bildungsgesättigte Interpretation – Schriftsteller wie Christoph Ransmayr drängen systematische Interpreten in die Rolle des Hasen, der den multiplen Autor-Igel niemals einzuholen vermag.

Markus Oliver Spitz Erfundene Welten – Modelle der Wirklichkeit
Zum Werk von Christoph Ransmayr.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004.
198 S.; brosch.
ISBN 3826029623.

Rezension vom 20.10.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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