#Roman

Er

Erika Pluhar

// Rezension von Christine Schranz

Emil Windhacker ist ein ganz normaler Mann: beruflich erfolgreich, sportlich und bei Frauen beliebt. Mit Anfang 50 lebt er ein unabhängiges Junggesellenleben, das sich um seine Arbeit, sein Auto, Sport, Grillpartys und gelegentliche unkomplizierte Beziehungen dreht. Dabei ist Emil stets darauf bedacht, sich niemanden zu nahe kommen oder zu wichtig werden zu lassen. Sobald seine Beziehungen kompliziert werden, macht er sich aus dem Staub: „Wen er hinter sich zurückließ, den vergaß er für immer. Er fand, dies sei nötig, um Ballast abzuwerfen, und nichts wog für ihn schwerer als der Ballast weiblicher Emotionen, die er nicht teilen konnte.“

Als Emil erfährt, dass er an Leukämie leidet, gerät seine Welt aus den Fugen. Er fühlt sich von seinem Körper – der Basis seines Selbstbewusstseins &ndassh; im Stich gelassen: „Jetzt besaß dieser Körper ihn, irgendein Mensch namens Emil Windhacker lebte noch in diesem Körper, er konnte weder aus ihm fliehen noch ihm weiterhin vertrauen.“ Erst reagiert Emil mit Verleugnung und Flucht. Er zögert den anstehenden Arztbesuch hinaus und beendet die Beziehung zu seiner Freundin Constanze, als diese beginnt, sich mehr um ihn zu sorgen als ihm recht ist. Ganz gleich, ob er durch schnelles Autofahren oder Sport die Kontrolle über sein Leben zurückzuerlangen versucht – das einzige, dem er nicht enkommen kann, sind seine eigenen Gedanken, die ihn immer wieder zwingen, sich mit seiner Vergangenheit, seinem Lebenswandel und nicht zuletzt mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Durch Zufall begegnet Emil mehrmals hintereinander der Schauspielerin Marie Liebner, von der er sich gleichzeitig angezogen und provoziert fühlt. Nachdem er erfährt, dass Marie ebenfalls an Leukämie leidet und es ihr weniger gut geht, als sie nach außen hin zeigt, will Emil erst in gewohnter Manier die Verbindung zu ihr beenden. Die Probleme anderer machen ihm Angst; er möchte keine Beziehung eingehen, in der etwas von ihm erwartet wird. Vor allem als er erfährt, dass er selbst gar nicht an Leukämie leidet, möchte er alles, was ihn an Tod und Krankheit erinnern könnte, hinter sich zurücklassen. Marie taucht allerdings immer wieder in seinen Gedanken auf, so sehr er sich auch dagegen wehrt.

Der Leser begleitet Emil drei Tage durch sein Leben und Denken. Mit schlichten Worten entwirft Pluhar eine überzeugende Hauptfigur – eine Figur, die man aufgrund ihrer Einstellungen und Reaktionen zwar schwerlich sympathisch finden wird, deren Handlungen und Gedanken aber immer verständlich bleiben. Hinter dem Buch steht klar das Geschlechter- und Gesellschaftsbild der Autorin selbst. So sagte Pluhar etwa in einem Interview der Zeitschrift der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien im Jänner 2007: „[D]er Mann an sich ist nicht so sehr erfreut, wenn er gefordert wird, sich in einen wirklichen Kontakt zu begeben, der über das Sexuelle hinausgeht, der ein rein seelisch gedanklicher ist.“ Emil Windhacker entspricht diesem Männerbild, das sich als Leitmotiv durch Pluhars Gesamtwerk zieht. Auch Emils jüngerer Arbeitskollege Rob ist ein stereotyper Pluhar’scher Mann. Beim gemeinsamen Mittagessen erzählt Rob von seiner Frau: „Sie hat mir nicht einmal sonderlich gefallen, aber du weißt ja, wie man so ist, ich hab sie gefickt […]. [D]abei habe ich Trottel sie geschwängert […]. Und aus war’s. Natürlich mußte geheiratet werden.“

Aus dem Misstrauen gegenüber tieferen Beziehungen, durch die sich Pluhars Männer auszeichnen, ergeben sich immer wieder humorvolle Momente. Nachdem etwa Emil eben erst die am Boden schlafende Constanze für tot gehalten und sich vor ihr versteckt hat, bricht Marie in ihrer Wohnung zusammen: „Schon wieder, dachte Emil, und er dachte es wütend, schon wieder liegt da eine Frau vor mir, als wäre sie tot. Ob sie auch simuliert?“ Obwohl der Leser an dieser Stelle vielleicht lieber von einem Sinneswandel Emils hören würde, so bringen ihn dessen Reaktion und der egoistische Entschluss, abermals davonzulaufen, auch zum Lachen. „Wir lachen oft, wenn uns etwas fassungslos macht“, erklärt Marie Emil während eines Telefonats. Genau diese Art von Lachen ist es, die Pluhar immer wieder provoziert, wenn sie Emil mit schwierigen Situationen konfrontiert.

Beim Verfolgen derartiger Gedankengänge Emils mag sich auch so mancher Leser selbst ertappt fühlen, weil er &ndassh; was er natürlich nie zugeben würde &ndassh; zu ähnlich praktischen – und damit egoistischen – Überlegungen neigt. Mit Er präsentiert Pluhar Egoismus als eine zutiefst menschliche (beziehungsweise zutiefst männliche) Charaktereigenschaft.

Die Autorin konfrontiert uns zwar mit einem negativen Männerbild, deutet aber doch die Möglichkeit einer positiven Veränderung an. Pluhars Werke zeichnen sich dadurch aus, dass sich die Charaktere im Dialog miteinander entwickeln. Im Interview sagt sie 2007: „Ich bin überzeugt, daß wir nur über das Du, über die Auseinandersetzung mit dem anderen, zu uns selbst finden können.“ Auch in Er ist die Auseinandersetzung mit dem „Du“ immer zugleich eine Auseinandersetzung mit dem „Ich“. Mit Marie und ihrer Krankheit konfrontiert, ändert Emil nach und nach seine Einstellung gegenüber Frauen. Gegen Ende des Romans gestattet er sich immer häufiger, an Marie zu denken und sich für ihr Befinden zu interessieren. Dabei ertappt er sich schließlich bei dem Gedanken, dass er Marie hätte sagen sollen, „[d]aß es besser ist, mit jemandem darüber [über ihre Chemotherapie] zu reden.“ Ob Emil seinen Gedanken in die Tat umsetzt und zum ersten Mal eine Beziehung eingeht, die sich durch ein Mit- statt durch ein bloßes Nebeneinander auszeichnet, bleibt offen. Der Roman endet mit einer Begegnung Emils und Maries am selben Hügel, auf dem sie einander drei Tage zuvor kennen gelernt haben, und findet damit einen Schluss, der sicherstellt, dass der Leser noch über den letzten Satz hinaus in Gedanken bei Emil und Marie verweilt.

Erika Pluhar Er
Roman.
St. Pölten, Salzburg: Residenz, 2008.
231 S.; geb.
ISBN 9783701714919.

Rezension vom 11.06.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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