#Lyrik

epiphanie

Marie-Thérèse Kerschbaumer

// Rezension von Marietta Böning

Marie-Thérèse Kerschbauer bezaubert seit Jahrzehnten mit klassisch-modernen Gedichten. Sehr formenreich und zeitlos im Sinne von „zeitfrei“ verweigern sie eine Einordnung in Kategorien wie „Experiment“ oder „Avantgardismus“ und würden daher auch nicht behaupten, besonders, weiter oder zeitgemäßer zu sein. Darin sind sie ziemlich groß. Und sie sprechen auch von den großen Themen der Lyrik. Vom Unaussprechbaren, vom Jein, von Geheimnissen, Mystik, vom Warten, Erinnern, dem ständigen Gewahrsein der Vergänglichkeit, von Liebe. Nicht nur, indem sie sie laut ansprechen. Sondern auch sehr sanft und leise, wie von der Seite geflüstert, stößt Kerschbaumer winzige Wahrnehmungsmomente oder Empfindungen an, die man sprachlich kaum zu erfassen vermag und die ein flüchtiges Gefühl mit einer Ahnung aufbauen und bestenfalls mit dem Titel bezoomt werden können, der aber abstrakt bleibt und vieles bedeuten kann.

Etwa die Gedichte über Mittage, Nachmittage und Abende. Oder der Titel „Ein Gleiches“, ein poetologisches Gedicht über die und spielend mit der Synekdoche, eine in Kerschbaumers Gedichten häufig anzutreffende Stilfigur: Vier unterschiedliche Bilder, die dem ersten Anschein nach nichts miteinander zu tun haben, stehen in der ersten Strophe in Versen aneinandergereiht. Fallende Spießgesellen; tauende Töne den Wünschen gleichend; ein auf eisenen Gazellen reitender Mond; der die Weiden bleicht. Auskunft darüber gibt die zweite Strophe. Es ist der Rauch das Element der Bilder. Er gibt den Schatten der Dinge eine Dynamik und lässt sie ineinander „reiten“. Und wenn eine Kalvalkade etwas schönes ist, so ist die Erkenntnis, dass alle ihr folgenden werden, eines Tages, doch schmerzlich.

Die Wertgeladenheit der Begriffe ist im inhaltlichen Kontext immer mit gegenteiligen Empfindungen aufgeladen. Die Gedichte erzeugen so eine ästhetische Spannung des Lebens als Leben-Müssens und Leben-Verlierens durch das Sein zum Tode, die in der Kunst allgegenwärtig ist. Die Gesamtkomposition des Textes nähert die Bilder in den Versen dem Titel und ist eben die Synekdoche, die sich aber – und das ist die poetologische Aussage des Gedichts – immer selbst infrage stellt. Denn wenn alles für alles stehen kann in der Dichtung (oder vieles für vieles), gleicht es sich an, wie die verschiedenen Leben, ihrem Ende permanent und unaufhörlich entgegen. Wie heißt es: Im Tode sind wir alle gleich. Dabei geht es gar nicht um den Tod. Das wäre zu viel gesagt. Doch ist er immer präsent. Kerschbaumer schreibt eine Dynamik des Seinszustands in Momenten, die fast zum erliegen kommen.
Ein schönes Bild hierfür ist auch das Gedicht „Der Garten“. Die Dichterin evoziert eine Minimaldynamik zwischen den Dingen, fast ein Stilleben. Ein im Sommergrün flirrender Vogel geht im ganzen Bild auf, das ebenso sirrend sich bewegt und so einen neuen Tag anstößt.

Wenn Kerschbaumer doch mit lauten Tönen anstößt, dann aber apokalytisch oder gewaltig ins Leben werfend. Die „Anrufung des Wassers“ ist eine Hymne auf Wasser als Metapher für das immerzu auf sein Ende zuströmende Leben. Partizipialkonstruktionen, Bennenreime, Kreuz- und Paarreime, daktylische Formen betonen die Mächtigkeit des Elements gleich der Dynamik von Welle und Flut. Alle Eigenschaften des Wassers erscheinen auf diese Weise herrschaftlich, auch „gütiges Wasser“, schwellende, quellendes, trinkendes Wasser, das selbst auch trunken wird (rauschend, schäumend, trinkend fließend …), somit wesenhafte Züge gewinnt, göttliche. Die zweite Strophe ist trochäisch komponiert und in Imperativen gehalten. Dies verleiht ihr den magischen Zauber der Naturgewalt. Im Gedicht „Was der Rauch spricht“ geht es ähnlich auf faustische und höllische Weise um die ganz großen Fragen in Leben und Kunst.

Aus Kerschbaumers zauberhaften Gedichten spricht eine unstillbare, auf den Dingen lastende Sehnsucht nach der Tiefe des Seins. Wenn im „Lavendel im Tongefäß“ – so der Titel eines weiteren Gedichts – der Lavendel im Sommerlicht aus der Tiefe der Zeit fast impressionistisch erahnbar wird, finden wir uns in das ungeschriebene Bild einer provenzalischen Landschaft hinausgeschoben. Die Dichterin sieht schreibend. Und die Leser_innen sehen lesend. Ut pictura poesis.

Marie-Thérèse Kerschbaumer epiphanie
Gedichte 1988 bis 2021.
Klagenfurt: Wieser, 2022.
80 S.; geb.
ISBN 978-3-99029-489-5.

Rezension vom 27.06.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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