#Roman
#Prosa

Entfernung.

Marlene Streeruwitz

// Rezension von Martina Wunderer

Der Punkt hinter dem Titel des neuen Romans der Österreicherin Marlene Streeruwitz ist Programm. Sie misstraut dem Beistrich, der Beziehungen und Übergänge suggeriert, wo keine sind. Der die harten Schnitte kaschiert, die scharfkantigen Brüche übertüncht. Der Rhythmus der Wörter. Knappe, sparsame, atemlose Sätze, durch scharfe Punkte getrennt, aufgehackt der Gedankengang. Minutiöse Beobachtungen, ein genaues Protokoll der Außen- wie der Innenwelt, schonungslos, präzise im Ausdruck.

Hinter der Kurzatmigkeit der Sätze, hinter dem Stakkatorhythmus, der schon frühere Romane wie etwa Verführungen (1996), Lisa’s Liebe (1997) prägte, steckt ein klarer sprachkritischer Ansatz, wie die Autorin in einem Interview erklärt: „Die Sprache darf keine Einheit, keinen umfassenden Zusammenhang vorgaukeln. Den gibt es nicht. Das ist weiß Gott keine neue Erkenntnis“. Diese Simulation von Kohärenz durch Sprache wird von Streeruwitz bewusst durch ein Zerhacken des Redeflusses, durch parataktische Syntax und elliptische, unvollständige Sätze unterlaufen, zugunsten einer „Rückführung der Komplexität von Sein auf pragmatische Entitäten, die nicht mehr aufeinander reduziert werden können. In der Autorenposition werden diese Entitäten gewichtet. Und. Sie werden einer Anordnung unterworfen, die subjektivere und objektivere Gegenwart konstituiert.“ Mit der sprachlichen „Brechung der Welt in ihre beschreibbaren Bestandteile“ setzt die Autorin diese theoretischen Ausführungen der Frankfurter Poetikvorlesungen auch in ihrem neuen Roman in die Praxis um.

Das Stakkato der kurzen Sätze stellt dabei den Versuch dar, „die beschädigte Chronik eines beschädigten Lebens“ auch auf der formalen Ebene zu vermitteln. Entfernung. beschreibt in 31 durchnummerierten Abschnitten die schmerzhafte Verarbeitung von Kränkungen und Verletzungen im privaten wie öffentlichen Leben einer Frau. Selma, 49, auf eigenen Wunsch kinderlos und unverheiratet, jahrelang in einer glücklichen Beziehung, erfolgreich in ihrem Beruf als Kulturmanagerin für die Wiener Festspiele, steht plötzlich vor den Trümmern ihrer Beziehung und ihrer Karriere. Ihr Lebenspartner verlässt sie für seine langjährige Geliebte und Mutter eines gemeinsamen Sohnes, ihr Vorgesetzter entlässt sie, um ihren Posten mit einer Jüngeren zu besetzen, und so zieht Selma als „Witwe des eigenen Lebens“ zu ihrem Vater zurück, in die Wohnung ihrer Kindheit, in die Erinnerungen an ihre Mutter, um sich in diesem sicheren Nest aus den Trümmern ihrer Vergangenheit neu zusammen zu setzen. Doch da „in einer solchen Verlorenheit das Fremde erträglicher ist als das Bekannte“ bricht sie „aus dieser Welt von vorgestern“ auf nach London, um dort, aus der Entfernung, ihr Scheitern in den Blick zu nehmen und einen Neuanfang zu versuchen.

Aus radikal persönlicher, weiblicher Sicht beschreibt Entfernung. jeden Schritt auf Selmas Odyssee, jeden Schauplatz, jede Beobachtung, jede Gefühlsregung. Innen und Außen verschmelzen in ihrer Wahrnehmung, sodass die Beschreibung des Flughafens, der U-Bahnfahrt, des Hotels, der Wege durch die nächtlichen Straßen Londons ein Spiegel ihrer Befindlichkeit werden. Wie bereits Streeruwitz‘ streng durchkomponierte Novelle morire in levitate“ ist Entfernung. darin auch eine Erzählung des Körpers, eine Etüde über den alternden weiblichen Körper, über den Körper als Austragungsort der öffentlichen Kämpfe, als gesellschaftliches Schlachtfeld. Gesellschaftliche Gewalt wird subjektiv am eigenen Körper erfahren, sie geht unter die Haut, wie auch in den Stücken der englischen Dramatikerin Sarah Kane, die Selma nun in einem Projekt auf die Bühne bringen will. Kanes Figuren sind für sie „Subjekte der Moderne“, die „mit sich selber in einen sadistischen Clinch verwickelt waren. Exekutoren der Macht an sich selbst. Richter und Henker in einem und gegen sich. Und dass die Aktionen. Die Figuren. Dass die die Traumbilder der Sprache waren. Dass da die Sprache abgespalten wurde von den Hauptfiguren. Dass es sich in den Stücken um eine Innenwelt handelte. Um die Innenwelt einer Person. Der Albtraum der Gesellschaft in einer Person geträumt.“

Nirgends wird dieser Albtraum so real erfahrbar wie in London, der „Hauptstadt der Härte“. Sie ist nicht mehr nur Schauplatz, sie wird zum Erfahrungsraum des eigenen Scheiterns, der Verletzungen, der Perspektivlosigkeit, der latenten Bedrohung, der Unerbittlichkeit des Alltags, ausgedrückt in einer drastischen, brutalen Sprache, die geschrieen werden will. Es ist kein stiller innerer Monolog, den Selma auf ihren Wegen führt, vielmehr drängt ihr Bewusstseinsstrom beinahe schmerzhaft nach außen, will sich verzweifelt Gehör verschaffen in der erstickenden Fülle des Großstadtlärms. Wie in der Literatur des 19. Jahrhunderts die Beschreibung von Naturgewalten zur Darstellung der Befindlichkeit der Figuren diente, so ist es bei Streeruwitz der tägliche Wahnsinn der Großstadt, der die Verlorenheit und Verzweiflung Selmas gleichsam nach außen kehrt, überhaupt erst beschreibbar macht. So erscheint es als literarische Notwendigkeit, dass die Kette von Ereignissen schließlich im Terrorattentat des 7. Juli 2005 in der U-Bahn von London kulminiert, in das Selma verwickelt wird und das im Roman wie jede andere Erfahrung konsequent nur aus der Perspektive ihres subjektiven Erlebens geschildert wird.

Selmas Selbstzentriertheit führt aufgrund dieser Verquickung von Gesellschaftlichem und Subjektivem auch nicht zu einer Verengung des Blicks auf das private Erleben, sondern verortet ihre Wahrnehmung im sozialpolitischen Kontext, fragt nach der Befindlichkeit des weiblichen Subjekts in einer neoliberalen Gesellschaft. Streeruwitz zeigt sich darin einmal mehr als eine genaue Analytikerin des weiblichen Alltags, der gescheiterten weiblichen Emanzipation, der narzisstischen Kränkungen der Frau, die sich leidenschaftlich in ihre Opferrolle fügt. Wie schon in Nachwelt und Jessica 30 wirft sie auch in Entfernung. einen genauen Blick auf den weiblichen Alltag als Spiegel der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und als Kreuzungspunkt der politischen Spannungen in einer globalisierten Welt.

Welt und Wahrnehmung, Innen und Außen, Erzählerstimme und Figurenrede fließen über 475 Seiten zunehmend ununterscheidbar ineinander, es gibt in Entfernung. kein Jenseits des Körpers als Erfahrungsfeld und der erlebten Rede als Begrenzung der Wahrnehmung. Der Leser muss sich freiwillig in das hermetische Gefängnis der Sprache begeben, nur dann entwickelt die nüchterne, spröde, heftige, zerbrochene Prosa einen atemlosen Sog, einen intensiven Erzählstrom mit formstrengem Aufbau, der dem Leser trotz des unversöhnlichen Inhalts und des Abrutschens in kitschig anmutende Zivilisationskritik am Ende durchaus Lust am Text zu schenken vermag.

Entfernung.
Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2006.
480 Seiten, gebunden.
ISBN 3-10-074432-2.

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Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 07.09.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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