#Essay
#Debüt

Entdecker

Raphaela Edelbauer

// Rezension von Marietta Böning

Eine Poetik.

Was ein Text tut, der unter allen Umständen auf seine Reproduktion aus ist. Raphaela Edelbauers Poetik Entdecker.

Vorweg: Die Lektüre dieses Textes ist ein schönes Stück Arbeit. Er gibt vor, potenziell alles zu wissen, was er wissen kann. Darüber kann man sich maßlos ärgern. Er geriert sich obendrein panpsychistisch, und das in einer „Gebrauchsanweisung“ für den Leser, was an sich schon anmaßend ist: die Welt handelt, Magma nistet sich ein, Sprache agiert organismisch – doch aus dem Unterbewussten drängeln sich Gedanken: ‚Das muss er sein. Er muss anmaßend sein‘. Man mag sich darauf noch mehr ärgern, denn so viel wird auf den ersten Seiten schon klar: Der Text meint es mit dem Panpsychismus nicht so, der ist nur rhetorische Masche, die kurz verwirrt, Edelbauers wissenschaftstheoretischer Unterbau ist nämlich radikal konstruktivistisch. Fortan ertappt die Leserin sich in einer Falle, vielleicht in einem Wald mit sehr vielen Bäumen. Schwierig macht es nicht, dass es viele sind, schwierig macht auch nicht, dass man drinnen ist, sondern dass man das Drinnensein wie durch Anweisung stets mitzudenken hat – der Beobachter, der sich selber in seiner Anwesenheit stört. Eine den Ärger bis dato vielleicht begleitende Überheblichkeit weicht hier dem Gefühl, der Text fordere einen heraus. Das ist ein Wagnis.
Die gute Nachricht: Man ist jetzt am Punkt, an dem man ihn ernst zu nehmen beginnt. Er kämpft um Akzeptanz. Das darf er.

Beim Vorarbeiten zieht es einen dann langsam aber sicher hinein. Dies Ziehen ist kein Locken. Es ist ein Raub, ein Gewaltakt bei zugehaltenem Mund. Im dichten Unterholz wird man geknebelt und dazu verdammt zuzuhören, und unbedingt bis zum Ende. Darunter macht es der Text einfach nicht (bzw. sein notwendiger, wissender, selbstrekursiver, nerv-tötender, rechthaberischer Widerspruch und Widerspruchsgeist). Er ist ja Poetik. Nachdem er einen mit wahren Wortschwällen beschießt, lässt er einen laufen. Es kann passieren, verführt zu werden zwischendurch. Selbst wenn er einen nicht verführt, wenn man ihn nur als Anhängsel auf immerdar in Form von Engrammen wird mitschleppen müssen, hat er seine Arbeit sich im Menschen abzulegen vorbildlich getan: erstens lassen sich Engramme nicht löschen (außer bei Demenz), zweitens wird dieser Text die Selbstreflektion des Lesers in seiner Rolle als Leser bis ins äußerste Bewusstsein gereizt haben, weil Edelbauer dieses Reizen direkt thematisiert. Das heißt: verdrängen ließe er sich auch als Belästigung schwer. Und ist das nicht der Erfolg eines Textes? Ist das Brillanz?

Entdecker verlangt vom Leser, der Leserin zu offenbaren, was der Text mit ihnen macht. Warum sich offenbaren: Er besteht aus narrativen Analogien, aber nicht im Sinne von Gleichnissen, sondern sich zum Essay hin öffnend. Das Gleichnishafte, bildhafte Rede, wirft den Leser zurück auf sich selbst, vergleichend. Das Essayhafte evoziert dabei einen Überzeugungsdiskurs, während das klassische Gleichnis so tut, als wäre sein didaktischer Anspruch selbstverständlich. Hinter der Wucht, mit der die Essays einen überrumpeln, steckt auch ein Selbstrechtfertigungsgestus. Der Text lädt ein, sich auf seine Tauglichkeit erst befragen zu lassen. Und damit schränkt er trotz Getöse seinen Allwissenheitsgestus sympathisch auch wieder ein.

Worin besteht die Poetik?
Ein gewagtes Eingangszitat von Dogen Zenji lässt das Ausmaß der Thematik erahnen: „Wenn die Erde abfällt, wenn Berge und Flüsse abfallen, enthüllt sich alles von selbst als Sprache.“ Sprache, Gestik, Nachzeichnung eines Vogelflugs gehören dazu, Sprache als Baustein der Welt offenzulegen lautet das Ziel. Das Alltäglichste poetisch zerbröselt und wieder gesetzt als ästhetische Spur auszumachen mag er als seine Arbeit sehen. Die sprachlichen Werkzeuge liefern die Alltagssprache und die Naturwissenschaft. Durch deren Siebe presst Edelbauer Fiktion und Introspektion, heraus kommen poetische Essays, die uns ins Erdinnere und an den Rand des Universums führen: Bestiarium, Mineralogie, Anatomie, Gravitationsfrage und Aggregate sind ihr Gegenstand. Eine Auseinandersetzung mit radikalem Konstruktivismus.

Im ersten Essay, „Bestiarium“, werden Texte wie Tierchen behandelt. Da gibt es den Schwamm, der nur an- und absaugen und Partikel ausspeien kann, aber Larven im menschlichen Ohr ablegt, oder einen Incubus/Succubus, durch die Haut seines Wirtes jagend, ein glaskörperähnliches Textefossil wird gezeichnet und anderes mehr. Dieser Text behauptet eine vermeintlich tierische Natur aller Sprache.
Das Durcheinander der Wissenschaftsdiskurse, ihre Verquickung mit Promotion und Placement, ihre ideologische Aufladung, das Durchlöchern der Welt querbeet stimulieren erst die Auswüchse der Sprache. Edelbauer exerziert einen ähnlichen Zustand mit der Entdeckung des Minerals „Dementium“ im Essay „Minerale“, als Heilmittel wiederbelebend, gegen Ozonschicht und Alzheimer wirksam, potenzielles Stammzellensurrogat. Wir kennen solche Alleskönner-Behexung. Was es tatsächlich macht, zeigt sich am Bergarbeiter Fritz im Tagebau. Es kristallisiert sich.
Einen umfangreicheren Festkörpergrad als Minieralien haben erkaltete Kontinentalplatten und Gebirgsformationen erlangt. Sie werden in „Kartographie“ versinnbildlicht als „die sprachlichen Klischees“, und „ihre Drift und Anstauung sind die verblassenden Metaphern, die sich in Gebirgsfalten werfen.“
Der Essay „Gravitation“ befasst sich mit dem Verhältnis von Mensch und Sprache analog zu Erde und Sonne im ptolemäischen Weltbild. Mit der Metapher, Menschen hätten lange geglaubt, die Sprache würde um sie kreisen, kennzeichnet die Autorin das alte Repräsentationsproblem. Ihre Essays gelten selbsterklärend als Paradigmen eines „geozentrisches Sprachbilds“.
Überall im Text finden sich feinsinnige und im Gegensatz zur behaupteten Festigkeit fast fragil wirkende Illustrationen von Simon Goritschnig. In „Gravitation“ enthalten sie außerdem amüsante Bildunterschriften.
„Anatomie“ ist die essayistische Erzählung über das „Absurdium“, ein in Analogie zum vegetativen Nervensystem seiner Architektin konstruiertes Gebäude. Die Icherzählerin besucht die Eröffnung, ein inszeniertes Spektakeln mit Showeinlagen, mit denen dargelegt werden soll, dass Naturgesetze erst durch Sinneswahrnehmung, Stoffwechselvorgänge und Erkenntnis erzeugt würden. Die Protagonistin erfährt sich mit Haut und Haar in der Versuchsanordnung eines wahnsinnigen Experiments. Was mit einem Ausstellungsbesuch beginnt, endet als Reise in ein neues Praterspektakel, in ein Wonderland, in den Kosmos des eigenen Ich oder vor ein junges Gericht.
Der Text „Aggregatzustände“ offeriert Ideen zur Verflüssigung von Gedanken mit einem multipluralistischen Skizzengefüge des Grafikers.

Edelbauers Essays sind enorm und unmöglich, utopisch und voller phantastischer Realismen, brillant und sperrig. Vulkanoide Salven, kalt und hart, die mit Brachialgewalt ihre LeserInnen treffen.

Raphaela Edelbauer Entdecker
Essays.
Mit Zeichnungen von Simon Goritschnig.
Wien: Klever, 2017.
176 S.; geb.
ISBN 978-3-903110-13-7.

Rezension vom 01.03.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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