#Roman

Engelszungen

Dimitré Dinev

// Rezension von Peter Stuiber

Das künstlerische Potenzial derer, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten als Migranten nach Österreich gekommen sind, wird selten gewürdigt und wenig gefördert. Eine der ruhmreichen Ausnahmen stellt der Literaturpreis „Schreiben zwischen den Kulturen“ dar, der jährlich im Amerlinghaus in Wien-Neubau vergeben wird, und dessen Preisträger im zugehörigen Verlag „edition exil“ die Möglichkeit zur Publikation erhalten.

Einer der Schriftsteller, die dieses Glück ereilt hat, ist Dimitré Dinev. Der gebürtige Bulgare floh 1990 nach Österreich, musste sich ein Jahrzehnt mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten, studierte nebenbei Philosophie und Russische Philologie und legte regelmäßig Nachtschichten ein, um sich dem Schreiben von Drehbüchern, Theaterstücken und Prosa widmen zu können. Die jahrelangen Anstrengungen haben schließlich Früchte getragen: Im Jahr 2000 konnte Dinev die Juroren von „Schreiben zwischen den Kulturen“ mit seiner mitreißenden Prosa überzeugen, im Jahr darauf erschien sein erster Erzählband „Die Inschrift“. Sein Auftritt im Amerlinghaus überzeugte auch Martina Schmidt vom Deuticke Verlag, wo nun der erste Roman des heute Fünfunddreißigjährigen erschienen ist.

Engelszungen ist ein im doppelten Sinne großer Wurf geworden. Der Erstling mag mit 600 Seiten Umfang zwar so manchen abschrecken. Wer jedoch ein paar Seiten gelesen hat, wird bald nicht mehr an dessen beträchtlichen Umfang, sondern nur noch ans Weiterlesen denken. Der Roman beginnt mit einer außergewöhnlichen Exposition: Iskren und Svetljo, zwei bulgarische Migranten in Wien, haben – jeder auf seine Weise – heruntergewirtschaftet. Der jahrelange Überlebenskampf im Westen war vergeblich, privat wie monetär stehen beide vor dem Ruin. Als letzte Hoffnung bleibt ihnen nur noch ein Besuch bei Miro, dem „Engel der Einwanderer“ – der liegt allerdings unter der Erde, am Zentralfriedhof, umgeben von „bester, ehrenwertester Gesellschaft“ (S. 7) Dort treffen Iskren und Svetljo aufeinander, und von irgendwoher scheinen sie sich zu kennen …

Soweit die Ausgangslage. Auf den folgenden 550 Seiten rollt nun Dinev die Geschichte der Familien der beiden Flüchtlinge auf, deren Brennpunkt in der südbulgarischen Stadt Plovdiv zu finden ist (aus Plovdiv stammt im übrigen auch der Autor). Ein großer Teil des Romans ist den Eltern der in Wien gestrandeten Sprösslinge gewidmet, vor allem deren Vätern. Da ist zum einen Iskrens Vater Mladen Mladenov, der nach jahrelangen Repressalien seitens des diktatorischen Regimes seine Zeit gekommen sieht, als der „liberale“ Todor Shivkov 1962 an die Macht kommt: „Er hätte in Sofia bleiben können, aber er kannte die Gesetze der Macht, und er bewegte sich lieber weit weg von ihrem Zentrum. (…) denn das Zentrum kannte er nicht, das Zentrum kannte keiner. (…) Und er wurde bald der wichtigste Mensch in der zweitgrößten Stadt.“ (S. 104 f.) Nur das Schicksal scheint es nicht gut mit ihm zu meinen: Mladens Frau Dorothea verliert ihr zweites Kind bei der Geburt, Schuld daran gibt der Kommunisten-Capo einem Milizionär, der die beiden Eheleute auf dem Weg zur Entbindung aufgehalten hatte – der erste Anknüpfungspunkt zwischen den beiden Familien: Denn der Milizionär ist Svetljos Vater Jordan Apostolov, dessen Parteikarriere mit diesem Unglück beendet ist und der sein Geld bis zum Ende des Kommunismus mit der schäbigen Tätigkeit eines Spitzels verdienen muss.

Iskren und Svetljo haben beide unter den etwas selbstherrlichen väterlichen Autoritäten zu leiden, ihre „typisch kommunistische“ Jugend weiß Dimitré Dinev mit den köstlichsten Details zu beschreiben: „Gott und Pornographie waren gleich schlecht für die Arbeiterklasse. Sie schwächten sie, sie brachten sie ins Wanken, der eine von hoch oben, die andere von allen üblichen Seiten. (…) Und zum ersten Mal seit Erschaffung der Welt wurde Gott und die Pornographie auf die gleiche Weise behandelt. Im Unterschied zu Gott mischte sich aber die Pornographie doch öfters unters Volk, und so ein Heft hielt nun Svetljo in seinen Händen.“ (S. 319) Iskren entwickelt sich schließlich zum begabten, selbstbewussten, wenn auch zurückgezogenen jungen Mann, während Svetljo sich lange Zeit vergeblich um die Aufnahme in die Welt der Erwachsenen bemüht. Als ihre Teenagerjahre zu Ende gehen, fällt zugleich auch das kommunistische Regime: Eine Zäsur im Leben beider Familien.

Mehr sei an dieser Stelle über den Plot nicht verraten. Die literarische Qualität von Dinevs Roman liegt jedenfalls in der schier unendlichen Fülle des Stoffes, die der Bulgare souverän beherrscht, begründet: Der Wechsel vom einen zum anderen Erzählstrang erfolgt mühelos und erzeugt eine fast unerträgliche Spannung; aberwitzige Geschichten, Einfälle und Anekdoten werden so stimmig und wie selbstverständlich verarbeitet, dass man Dinev neben hochgelobten protzigen Erzählern wie etwa Jonathan Safran Foer als geradezu bescheiden und dezent bezeichnen muss; dazu kommt eine Fülle an Bildern und poetischen Formulierungen, aus denen andere Autoren fünf Romane bestreiten würden. Last but not least entwirft Dinev so ganz nebenbei ein Panorama europäischer Geschichte aus einem bulgarischen Blickwinkel, der hierzulande praktisch unbekannt sein dürfte.

Fazit: Engelszungen ist ein absoluter Glücksfall unter den Neuerscheinungen dieses Jahres. Wenn Erzählkunst derzeit tatsächlich am Markt gefragt sein sollte, dann müsste der Debütroman von Dimitré Dinev ein Hit werden. Bleibt abzuwarten, ob die mediale Öffentlichkeit darauf so reagieren wird, wie sie dies Pawlow-like bei vielen künstlich gehypten Autoren zu tun pflegt.

Dimitré Dinev Engelszungen
Roman.
Wien, Frankfurt am Main: Deuticke, 2003.
599 S.; geb.
ISBN 3-216-30705-0.

Rezension vom 29.09.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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