#Roman

Engel zweiter Ordnung

Rudolf Habringer

// Rezension von Simon Leitner

Bis zu einem gewissen Grad kann man Arnold Walter ja eigentlich nichts vorwerfen. Es ist nun einmal so, dass, aus welchen Gründen auch immer, der ersten Liebe eine ganz besondere Faszination eigen ist (und bleibt), die weder direkt greifbar noch rational erklärbar und seltsamerweise mit zunehmendem Alter nicht schwächer, sondern intensiver zu werden scheint. Man muss nicht unbedingt, wozu man im sogenannten „mittleren“ Alter gerne neigt, verlorenen Chancen verschiedenster Art nachtrauern oder gar in einer Art (Lebens)Krise stecken, um sich plötzlich seiner Jugendliebe mit aller vermeintlichen Deutlichkeit zu erinnern; nein, es gehört gerade zu ihrem speziellen Charakter, dass sie einem auch und vor allem dann in den Sinn kommt, wenn man am wenigsten mit ihr rechnet.

Insofern ist es weder besonders überraschend noch verwerflich und sogar fast normal, dass sich Arnold nach einer ebenso flüchtigen wie zufälligen Begegnung mit seinem Jugendschwarm Katharina ganz seinen Gedanken hingibt, wie es war und wie es hätte sein können. Gewöhnliche Gedankenspielereien also, möchte man meinen, doch bei Arnold, und hier wird die ganze Sache problematisch, hinterlässt das kurze Aufeinandertreffen tiefere Spuren, die in dem Wunsch, in der Obsession münden, Katharina unbedingt wiederzusehen – um jeden Preis.

Der Umstand, dass Arnold es als Vater, Ehemann und Universitätsprofessor im Grunde gar nicht nötig hätte, sich in unrealistische Zukunftsphantasien zu flüchten, es aber dennoch tut, ist einerseits dem schon erwähnten irrationalen Wesen einer unglücklichen Jugendliebe zuzuschreiben, andererseits aber auch damit zu erklären, dass Katharina gewissermaßen die letzte Verbindung zu einem furchtbaren Erlebnis in Arnolds Kindheit und somit zwangsläufig noch stärker mit seiner Vergangenheit verknüpft ist. Als ausgesprochen selbstkritischer und -reflexiver Mensch weiß selbstverständlich auch Arnold um diese möglichen Ursachen und die Absurdität seiner plötzlichen Sehnsucht. Die mit seiner Entscheidung, trotzdem mit seiner Jugendliebe Kontakt aufzunehmen, einhergehenden Konsequenzen allerdings konnte er zu dem Zeitpunkt, als er in aller gebotenen Stille den Privatdetektiv Seisenbacher damit beauftragte, Katharinas Kontaktdaten herauszufinden, freilich nicht im entferntesten erahnen. Denn nachdem Arnold sich mithilfe der von Seisenbacher gesammelten Daten bei Katharina gemeldet und in weiterer Folge heimlich einige Tage (und Nächte) mit ihr verbracht hat, wird er plötzlich erpresst, und er entschließt sich, wieder entgegen aller Vernunft, den Fall selbst in die Hand zu nehmen.

Zugegeben, die Grundkonstellation in Rudolf Habringers neuem Roman „Engel zweiter Ordnung“ mag auf den ersten Blick weniger klassisch (laut Klappentext) als vielmehr wenig originell anmuten – als Stoff diverser Romane und Filmkomödien oder -tragödien ist sie längst nichts besonderes mehr. Umso erstaunlicher und vor allem erfreulicher ist es, was ein begnadeter Erzähler wie Habringer daraus macht. Dabei sind es vor allen Dingen zwei Aspekte, die den Roman zu einem außergewöhnlichen Vergnügen machen: die drei Protagonisten und, damit zusammenhängend, die Art und Weise, wie Habringer deren Geschichte(n) erzählt.

Wie kunstvoll der Roman tatsächlich konstruiert ist, erschließt sich allerdings erst relativ spät, denn die Geschichte nimmt nur sehr langsam an Fahrt auf. Sie beginnt mit einem kurzen, wenn man so will zweiteiligen Prolog, der sich um die schon angesprochene Katastrophe in Arnolds Kindheit dreht, einen schwerwiegenden Unfall bei einem Bootsausflug. Habringer beschreibt dieses (drohende) Unglück und vor allem den Ort, an dem dieses sich zuträgt, den See und die umliegenden Berge und Wälder, unaufgeregt und gleichzeitig derart eindringlich, dass schon nach den ersten paar Sätzen eine bedrohliche Stimmung entsteht, die sich bis ans Ende des Prologs zieht. (An dieser Stelle soll auch die Gelegenheit ergriffen werden, den für das Buchcover Verantwortlichen ein ausdrückliches Lob auszusprechen, die ein geradezu perfektes Umschlagbild ausgewählt haben.) Dass in dem Prolog aber nicht nur der erwähnte Unfall und in weiterer Folge Arnolds erste Begegnung mit Katharina, sondern auch noch einige weitere für den Verlauf der Geschichte nicht unwichtige Details (auch wenn man sie leicht übersieht) erwähnt und gewissermaßen schon hier die Weichen für alles, was folgen wird, gestellt werden, wird ebenfalls erst gegen Ende der Lektüre klar. So unscheinbar er auch wirken mag, der Prolog birgt schon alles Weitere in sich, stellt sowohl Kern als auch Kulminationspunkt der folgenden Kapitel dar.

Insgesamt drei Kapitel sind es, und die darin stattfindenden Ereignisse werden jeweils aus der Sicht einer der drei Hauptfiguren geschildert und unterscheiden sich daher, wie diese, deutlich voneinander: Im ersten Teil überwiegt der melancholische Charakter, Arnold grübelt sich durch das ganze Kapitel hindurch, prüft mehr oder weniger krude Ideen und den praktischen Wert diverser Wortneuschöpfungen, ergibt sich ganz seiner Vorstellung von Katharina und den nächsten Schritten sie betreffend. In Kapitel 2 ändert sich mit dem Protagonisten auch der Ton, hier darf sich Detektiv Seisenbacher über die (Segel)Ohren seiner Kundschaft auslassen, verschiedene zotige Sprichwörter und ordinäre Witze von sich geben und sich in Betrachtungen seiner attraktiven Sekretärin ergießen. Bis schließlich im letzten Teil Katharina zu Wort kommt, die mittlerweile mit einem Politiker eigentlich glücklich verheiratet, aber ebenso wie Arnold scheinbar etwas gelangweilt in ihrer Ehe ist, sich mehr aus Spaß an der Camouflage auf ein Treffen mit ihm einlässt und sowohl sich selbst auch die Situation besser im Griff zu haben scheint als er; bei ihr dominiert ein nüchterner, sachlicher Erzählstil. Diese einzelnen Kapitel bzw. Geschichten laufen nebeneinander her, überlappen sich oder greifen ineinander, dadurch ergeben sich bisweilen gleich drei unterschiedliche Blickwinkel auf ein und dasselbe Ereignis, was einerseits neue Aspekte eröffnet und Zusammenhänge verständlich macht, andererseits aber auch des Öfteren gerade durch Widersprüche für Komik sorgt: wenn man beispielsweise von Seisenbacher hört, dass ihn genau jene Aussagen neugierig und skeptisch machten, die Arnold als besonders beschwichtigend empfand, oder wenn man merkt, dass Arnolds Vorstellung von Katharina vielleicht doch nicht ganz der Wahrheit entspricht …

Jede der drei Figuren meint, alles unter Kontrolle, die Zügel in der Hand zu haben; spätestens aber am Ende der jeweiligen Kapitel, wenn sie diese Zügel buchstäblich an den nächsten abgeben müssen, erkennen sie, wie der Leser, dass es keineswegs so ist. Wie schon erwähnt, sind es vor allem diese Erzählweise und die damit einhergehenden Überraschungen, die den Reiz des Romans ausmachen und einen unwiderstehlichen Sog ausüben. Hinzu kommen noch die einfühlsamen und präzisen Beschreibungen insbesondere von Arnolds (verklärter) Liebe zu Katharina, doch wie stark Habringer im Beschreiben zwischenmenschlicher Beziehungen ist, sollte nicht erst, aber spätestens seit dessen Liebesgeschichten „Alles wird gut“ bekannt sein. Und so bleibt als Fazit schließlich zweierlei zu konstatieren: einerseits, dass Rudolf Habringer mit „Engel zweiter Ordnung“ ein spannender, humorvoller und im bestem Sinne unterhaltender Roman gelungen ist; und – was vielleicht noch viel erfreulicher ist – dass Habringer offensichtlich immer besser wird. Insofern wird nicht alles gut, sondern besser.

Rudolf Habringer Engel zweiter Ordnung
Roman.
Wien: Picus, 2011.
394 S.; geb.
ISBN 978-3-85452-669-8.

Rezension vom 29.03.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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