#Roman

Elf Nächte und ein Tag

Christoph Dolgan

// Rezension von Gerald Lind

Der Grazer Christoph Dolgan durchmisst in seinem zweiten Roman Elf Nächte und ein Tag die Dunkelkammern der menschlichen Psyche. Dabei erfasst der Autor in präziser und dichter Prosa auf eigentümliche Weise allgemeingültig erscheinende Paradoxien menschlichen Verhaltens, Denkens, Seins, ohne sie auflösen oder romantisieren zu wollen.

Die Hinwendung zur Nachtseite erscheint bei seinen Figuren – dem namenlosen Ich-Erzähler, seinem manisch-depressiven Freund Theodor und anderen Außenseitern und Randständigen – gleichzeitig so unabwendbar und folgerichtig wie außerhalb der Möglichkeit identifikatorischen Verstehens. „Elf Nächte und ein Tag“ legt somit die Grundrisse dessen frei, was Menschen und Menschsein ausmacht, und belässt gleichzeitig die darauf stehenden Gebäude im Dunkeln. In einem Gedanken des Erzählers über seine Nachtexistenz wird dieses poetische Verfahren des Romans mitreflektiert: „Die Nächte […] waren übersichtlicher, die hatten weniger Interieur, das mich irritieren konnte, sie hatten keine Ränder und von den guten Nächten wollte ich nicht glauben, dass ihnen ein Tag vorangegangen war, noch dass ihnen einer folgen würde.“ (21)

Im Erzählzentrum von Elf Nächte und ein Tag steht Theodor, Sohn eines Architekten, Nachtwächter bei einer Security-Firma, genialer Charismatiker, solipsistisch Leidender und engster Freund des Ich-Erzählers. Dolgan gelingt es, auf effektfrei schonungslose Weise den Verlauf der psychischen Erkrankung Theodors nachzuzeichnen, seine unauflöslich ineinander verknoteten Hochs und Tiefs in ihrer existentiellen Tragweite auszuloten. Obwohl oder gerade weil die Freundschaft zwischen Theodor und dem Erzähler von dieser Krankheit geprägt ist, erhält sie im Laufe des Romans eine die Grenzen von Individualität, Leben und Tod aufhebende Unbedingtheit, zu deren Fluchtpunkt eine ursprünglich gemeinsam geplante Reise nach Sankt Petersburg wird, die vom gleich zu Beginn des Romans erzählten Selbstmord Theodors verunmöglicht wurde.

Christoph Dolgan hat Elf Nächte und ein Tag mit einem ausladenden philosophisch-literarischen Referenzrahmen versehen. Bezüge zu dem von Theodor obsessiv verehrten Fjodor Michailowitsch Dostojewski sind nicht nur ins Motiv der Reise nach Sankt Petersburg eingeschrieben, sondern verästeln sich weit in die wesentlichen Themen des Buches wie Außenseitertum und Randständigkeit, Sucht und Sehnsucht, Freiheit und Freitod. Vielschichtige semantische Räume eröffnen zudem Verweise auf die populäre Musik, von der programmatischen Bob-Dylan-Zeile „They say the darkest hour is right before the dawn“ (5) bis zum Song „Siamese Twins“ vom Album „Pornography“ der britischen Goth-Legenden The Cure: „Als ich es das erste Mal gehört hatte, hatte sich etwas verändert. Ich hatte mich verändert. […] Pornography, das war wie Sand ins Wasser schütten. Wie Ameisen, überall. Wie ein brennender Berg zusammengeworfener Steckenpferde. Wie die längste, die nicht endende Nacht, in der die Zeit ewig zurücklaufen konnte.“ (23)

In solch äußerlich unscheinbaren Momenten – wie eben dem erstmaligen Hören eines Musikalbums – lässt Dolgan im Fugenwerk seiner Schattenwelten eine Gegenwirklichkeit aufblitzen, für die es sich lohnt, zu leben. Besonders eindrücklich geschieht dies in einer beziehungsreich ausgearbeiteten Szene, an deren Ende der Erzähler auf Flaschen schießt, die Theodor im Walddunkel einen Abhang hinabwirft: „Ich sah die Flasche fliegen. Ich sah mich zielen. Ich hörte den Schuss. Ich sah die Flasche in der Luft zerbersten, ein Volltreffer, Glassplitter glitzerten im Scheinwerferlicht. Ich hörte Theodor einen Freudenschrei ausstoßen, der so ehrlich war wie vielleicht nichts sonst, was ich je von ihm gehört hatte. Ich erlebte einen Moment puren Glücks.“ (50)

Christoph Dolgans Elf Nächte und ein Tag ist ein kompromisslos in die untersten Schichten des Menschseins vordringender Roman, geschrieben in höchst überlegter und ungemein genauer Sprache. Eine außergewöhnliche Leseerfahrung.

Christopher Dolgan Elf Nächte und ein Tag
Roman.
Graz, Wien: Droschl, 2019.
207 S.; geb.
ISBN 978-3-99059-033-1.

Rezension vom 30.09.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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