Haben wir nicht alle gelernt, dass eine Geschichte in einem Buch nicht der Autor erzählt, sondern ein „Erzähler“, entweder ein auktorialer, oder ein personaler, oder ein Ich-Erzähler? Frau Huszai nimmt den Kriminalfall Tonka her und schnürt aus ihm einen Strick, um etliche Narratologen und einen hübschen Teil der bisherigen Musil-Exegeten zu Fall zu bringen und nebenbei den Fall zu lösen. Das Ungeborene in Tonkas Bauch hat doch einen Papa. Der Kaufmann ist der Schwängerer, die Geschwängerte hat bei ihm gearbeitet und sich prostituiert, bis er sie mit einem Monatslohn abspeist und rauswirft.
Auf die scheint es einfache und naheliegende Lösung ist von den 32 Tonka-Interpreten- und Interpretinnen, die Frau Huszai im Literaturverzeichnis ihres Buchs namentlich anführt, noch keine(r) gekommen. Die Baseler Literaturdetektivin bedient sich eines grundsätzlich anderen Instrumentariums als ihr großer Widerpart Karl Corino, auf dessen Musil-Biografie jetzt alle gespannt warten. Während Kommissar Corino nämlich seine Fälle zu lösen pflegt, indem er im Leben der Autoren stierlt und mittels biografischer Ermittlung die literarischen Lügengewebe der Dichter zerreißt, vollführt Frau Huszai das Kunststück, das Rätsel rein aus dem Text zu lösen. Es reicht ihr eine einzige Stelle in der Novelle Musils, aus der sie nicht nur das Indiz ableitet, dass der Kaufmann Tonka das Kind und eine venerische Infektion angehängt haben muss, sondern sie zeigt in der Ausdeutung der Stelle auch – und darum geht es ihr eigentlich in ihrem Buch – dass der namenlose Held, der treue Freund der vermeintlich ungetreuen Tonka, der fiktive Autor der Geschichte ist. Wie es sich mit dessen Autorschaft verhält, haben bisherige Tonka-Interpreten mehr oder weniger (nicht so nuanciert wie Frau Huszai) zwar eingesehen, aber praktisch alle bisherigen Deutungen gehen dem Helden und fiktiven Autor auf den Leim, weil sie Tonkas Rätsel als unlösbar begreifen. Wann immer brave Literaturlehrer/innen im Deutschunterricht in der Schule auf die Idee verfallen, Musils Drei Frauen im Unterricht zu behandeln (was an sich keine schlechte Idee ist, weil sich an ihnen über sprachliche Kommunikation und Geschlechterbeziehungen lernen lässt), müssten sie den Kindern entweder erklären, dass es eine unbefleckte Empfängnis gibt oder dass die Tonka-Geschichte in schöner Symbolik und Parabel zum Ausdruck bringe, es gebe im Leben Dinge, die man eben nicht wisse. Exakter: Männer wissen nicht, was Frauen denken. Das Weib, die Liebe – unauflösliche Geheimnisse.
Frau Huszai unternimmt es, mit solchem Missverständnis aufzuräumen: sie tut erstens dar, dass es eine triste fiktive Realität gibt, die Tonka zugrunde liegt; zweitens wie der Held sein Liebeserlebnis mit Tonka bewältigt, indem er die Novelle Tonka schreibt, die der Autor namens Musil, der damit sein Liebesverhältnis mit dem Brünner Arbeitermädchen Herma Dietz bewältigt, der Leserschaft als seine Novelle unterschiebt; drittens wie der Autor die metafiktionale Struktur des Textes sichtbar macht und sich damit von seiner Erzählung distanziert und sie konstruktiv ironisiert und es schafft, den Mythos vom süßen Mädel und die neuromantische Schreibweise der Zeit, in der er seine Geschichte mit Herma Dietz hatte, radikal unfreundlich imitierend auf die Schaufel zu nehmen, dabei die wahre Romantik, die Frühromantik Hardenbergs, und teilweise Nietzsche rehabilitierend. Eigentlich genial! Wer? Musil? Frau Huszai? Musils Genialität schmälert Frau Huszai, wenn sie behauptet, er hätte die narrative Vielschichtigkeit seiner Erzählung unter dem Einfluss zeitgenössischer Erzähltheorie entwickelt. Die Komposition mit dem fiktiven Autor dürfte eher ein natürliches Ergebnis des schmerzhaften Schreibprozesses gewesen sein als eine bewusste Übernahme aus einem Buch der Germanistin Käthe Friedemann von 1910, wie Villö Huszai (S. 93ff) meint. Zumindest fehlt in Musils Nachlass jeder Hinweis, dass Musil sich je mit Erzähltheorie beschäftigt hätte. Er war stets entschlossen, das Rad neu zu erfinden. Und übrigens war ja auch Homer vor Stanzel.
Stellt sich bei der Lektüre einer alles genau belegenden und kenntnisreichen Textanalyse unserer Tage mit ihrem überbordenden Instrumentarium und 552 Anmerkungen plötzlich Ekel am Interpretationenlesen ein, ist das meinem notorischen Altösterreichertum anzulasten und nicht der bierernsten schweizerischen akademischen Gründlichkeit von Frau Huszai. Irgendwie geht mir zwischen Mach und Nietzsche, Histoire und Diskurs, Narratologie, Metafiktionalität und pyschoanalytischer Lektüre der Bezug zur historischen und biografischen Realität wieder verloren, die hinter dem fiktiven Schicksal des tschechischen Arbeitermädchen steht, das sich prostituiert, weil es sich prostituieren muss, sich infiziert, und dann von ihrem Liebhaber auf den Weg zum Tod begleitet wird, woraus der dann eine schöne Geschichte dichtet. Aber alle die Verflechtungen existieren in Tonka ja: zur Erzähltheorie, zu Musils Romantik-, Nietzsche- und Mach-Rezeption und zu einer genderspezifischen Lektüre natürlich. Das Buch vom „Ekel am Erzählen“ legt noch eins drauf und sucht ein Modell für die Beantwortung der fiktiven Autorschaftsfrage bei Musil generell. Die Verwirrungen des Zöglings Törless, Die Vereinigungen, Grigia und die Amsel werden herangezogen, schließlich greift der Befreiungsschlag gegen den Ekel auch nach dem Mann ohne Eigenschaften und dessen ungelöste Rätsel.
„Viel von sich selbst zu reden, gilt als dumm. Dieses Verbot wird von der Menschheit auf eigentümliche Weise umgangen: durch den Dichter!“ In Frau Huszais Buch wird dieser Ausspruch, den Musil 1935 bei einer Lesung tätigte, als „Basler Aphorismus“ bezeichnet und zum Ausgangspunkt für die metafiktionalen Konstruktionen in Musils Schreiben erklärt. Zweifellos hat sie recht. Die Drei Frauen und in ihnen der Kriminalfall Tonka sind im Licht der Erkenntnis, die wir Frau Huszai verdanken, der denkbar raffinierteste Befreiungsschlag von in die Enge getriebenem männlichen Täterbewusstsein. Der Mörder (Ingeborg Bachmann hätte beide, den kleinen hässlichen Kaufmann und den Liebhaber Tonkas offen als Mörder bezeichnet) stellt sich selbst bloß, indem er sich zum Dichter aufschwingt und in seinem „Gedicht“ ein Mordgeständnis liefert. Mörder sind sie beide: der Liebhaber Tonkas und der Liebhaber Herma Dietzens. So weit geht Frau Huszai nicht. Aber das habe ich aus ihrem Buch gelernt.