#Biografie

Eine Wienerin in New York

Anna Freud-Bernays

// Rezension von Wolfgang Straub

Die Erinnerungen der Schwester Sigmund Freuds.

Das ist eines jener Bücher, die man gerne von hinten zu lesen beginnt – um zuerst aus dem Anhang etwas über die Autorin, über die Entstehung des Buches zu erfahren. Denn der Herausgeber Christfried Tögel meint in seinem Nachwort zwar, dass „Anna Freud-Bernays‘ Erinnerungen weder vom Ruhm ihres Bruders Sigmund Freud, des Begründers der Psychoanalyse, noch von dem ihres berühmten Sohnes Edward, der als Vater der Public Relations gilt, zehren“, aber natürlich spielt diese Verwandtschaft eine große Rolle. Wären das „nur“ Aufzeichnungen einer „Wienerin in New York“, hätten sie kaum den Weg in die Öffentlichkeit gefunden. So fügt der Verlag im Untertitel verständlicherweise den wichtigen Hinweis auf Sigmund Freud hinzu.

Der Freud-Experte Tögel hat insofern Recht, als sich Anna Freud-Bernays selbst niemals auf den Ruhm ihres älteren Bruders beruft, die Rezeption aber kommt ohne Bruder Sigmund nicht aus. So gibt der Herausgeber als Grund für die Neuausgabe der Lebenserinnerungen an, dass es sich hier schließlich „um das umfangreichste biographische Dokument eines Freudschen Familienmitglieds dieser Generation handelt.“ Der Text wurde in den dreißiger Jahren zum ersten Mal unter dem Titel „Erlebtes“ in einem kleinen Wiener Kommissionsverlag einer Buchhandlung (ohne Jahresangabe) veröffentlicht. Tögel vermutet, Sigmund habe das arrangiert, schließlich lebte Anna zu dieser Zeit seit Jahrzehnten in den USA.

Anna ist nach Sigmund das zweitälteste Kind, beide sind im mährischen Freiberg (Príbor) geboren. Die anderen fünf Geschwister kamen in Wien zur Welt, wohin die Familie 1859, als Anna ein Jahr alt war, übersiedelte. Ihre ersten Erinnerungen beginnen mit dem fünften Lebensjahr und einem längeren Aufenthalt bei den Großeltern. „Trotzdem ich durch die Liebe der Großeltern eine sehr schöne Zeit hatte und viel Freiheit genoß, gab es doch täglich Tränen, da ich nach alter Art immer Brot zum Fleisch essen sollte – und das wollte ich nicht tun.“ Wie dieser Beispielsatz so präsentiert sich der gesamte Text: unprätentiös und unmittelbar (mitunter wirkt die Prosa wie diktiert, wie mündlich erzählt), ohne stilistisches Beiwerk, ohne Reflexion. Über die materielle Situation der Familie etwa macht sich die Autorin wenig Gedanken, man kann aber rückschließen, dass, wo täglich Fleisch gegessen wurde, keine Armut herrschte. Anna machte eine Lehrerausbildung, nach der Hochzeit – sie heiratete den Bruder von Sigmunds Braut – arbeitete sie jedoch nicht weiter. Die vier bildeten ein „Doppelpaar“, wie es Anna nennt. Spätestens in Zusammenhang mit ihrer Hochzeit trat die emotionale Distanz von Sigmund zu Anna und ihrer Familie zutage. Eli Bernays, der Gatte, hatte einen Teil der Mitgift seiner Schwester zu Finanzspekulationen, die fehlschlugen, herangezogen und damit deren Hochzeit mit Sigmund hinausgezögert.

Anna Freud-Bernays ist keine große Stilistin, vieles ist aufzählend, aneinanderreihend. („Auch sonst war der Aufenthalt voll Schönheit und sehr anregend.“) Aber man liest die Aufzeichnungen mit großer Sympathie, die Lebensfreude und der Humor, die sich Anna trotz ihrer zahlreichen Krankheiten und Leiden, bewahrte, bleiben durchgehend spürbar. Der große Einschnitt kam 1891, Eli ging, ohne sich mit seiner Frau abzusprechen, alleine in die USA. Anna gibt ökonomische Gründe, die Verheißung eines chancenreichen Lebens an (siehe Leseprobe). Das Nachwort weiß mehr, Eli dürfte ein Doppelleben geführt haben: „Seine Geldnöte vergrößerten sich durch ständige Seitensprünge und eine Anzahl unehelicher Kinder, für die er Alimente zahlen mußte. Es spricht einiges dafür, daß die Entscheidung Elis, nach Amerika auszuwandern, im wesentlichen von dem Wunsch bestimmt war, diesen Verpflichtungen zu entkommen.“ 1892 holt er die Familie nach, Anna fährt mit einem einjähriger Sohn hochschwanger nach New York, zwei Kinder werden vorerst bei Sigmund zurückgelassen.

Nun beginnt die „klassische“ Geschichte einer erfolgreichen Einwanderung und Existenzgründung („New York war wirklich das Land, wo Milch und Honig floß.“), nach anfänglich harten Zeiten hat Eli im Getreidehandel Erfolg, Wohlstand stellt sich ein, die immer größer werdende Familie Bernays zieht in immer luxuriösere Häuser. Nun wechseln sich die Erzählungen von den Krankheiten der Kinder und von den Europareisen, die Anna zum Auskurieren ihrer Leiden jeden Sommer unternahm, ab. Womit der Familienernährer genau sein Geld verdient, wird nicht näher ausgeführt (Eli war „an der Produktenbörse tätig“), andere Dinge wie die Abendgesellschaften dominieren: Es „stand die deutsche Bildung und Geistigkeit immer im Mittelpunkt der Unterhaltung. Wir Frauen saßen meist mit Handarbeiten beschäftigt dabei und freuten uns, den Gesprächen der Männer zu lauschen.“

Die Autorin nahm die Dinge „so wie sie waren“, zudem wird man das Gefühl nicht los, hier sei einiges für die Niederschrift geschönt worden. Anna Freud-Bernays übte wohl strenge Selbstzensur bezüglich dessen, was „interessant“ genug sei, festgehalten zu werden. Einige Passagen strotzen vor Biederkeit, einige Passagen bekunden, wie schnell die Wienerin „amerikanisierte“ und sich etwa an die hohe Badezimmerdichte amerikanischer Wohnungen gewöhnte – was bei ihren Europabesuchen ins Auge sticht. (In einem ungarischen Kurort bildete sie mit Landsleuten „eine amerikanische Kolonie und brachte den Ungarn ein wenig Kultur bei.“)

Andere Stellen zeigen wiederum eine humorvolle, selbstbewusste Frau, die sich zu helfen weiß – diese Seite von „Freuds Schwester“ schlägt vor allem dann durch, wenn sie weit weg von ihrem Ehemann unterwegs ist. Was für sich alleine holprige, aber sympathische Memoiren blieben, werden durch die Verbindung mit den im Anhang angefügten Dokumenten – Ausschnitte aus den Erinnerungen Edward Bernays‘, des berühmten Sohnes, und dem 1939 entstandenen Text „Mein Bruder Sigmund Freud“ – zu einem abgerundeten, packenden Lebensbild und Zeitdokument. Der Anhang verweist auch auf den letztendlich wichtigsten Aspekt der frühen Auswanderung Anna Freud-Bernays: Sie bewahrte sie vor dem Schicksal der anderen Freud-Schwestern, die alle von den Nazis ermordet wurden.

Anna Freud-Bernays Eine Wienerin in New York
Persönliche Erzählung.
Hg.: Christfried Tögel.
Berlin: Aufbau, 2004.
272 S.; geb.
ISBN 3-351-02566-1.

Rezension vom 09.06.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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