#Lyrik
#Prosa

Eine Schwalbe falten

Margret Kreidl

// Rezension von Andrea Grill

Gute Bücher können z. B. so sein, dass sie dem Leser viel Raum lassen, sich sein eigenes Buch auszudenken. In Margret Kreidls neuestem Band ist es wie in dem Kinderspiel, das sie auch beschreibt, dem Fadenspiel. Aus einem zwischen Fingern und Hals aufgespanntem Wollfaden wird, was man sehen will: Bett, Teppich, Milchstrasse, Regenschirm oder Vogel.

Ich dachte als Kind, man könne dieses Spiel nur spielen, wenn ein anderer die Fäden immer wieder abhebt und in neuen Verstrickungen spannt. Kreidls Kind – falls es ein Kind ist – spielt ganz allein. Zwischen Kopf und Hand. Ein Geograph und Anthropologe namens Franz Boas (ein Freund von Claude-Lévi Strauss) soll das Fadenspiel der Inuit nach Europa gebracht haben, lese ich in Wikipedia, aber vielleicht ist es einfach ein Spiel, das jedes Kind, egal wo es wohnt, einmal erfindet? Franz Boas dissertierte 1881 mit einer Arbeit in Meeresphysik, die sich mit der Frage beschäftigte, warum das Wasser blau erscheint. Der Zusammenhang ist nur da, weil ich ihn herstelle: Die Farbe Blau hat auch für Kreidls Erzählerin Bedeutung, „Habe wochenlang blaue Bilder gemalt. Bin tief hineingetaucht in das Blau.“ Und zu Wasser: „Du bist durstig. Du trinkst ein Glas Wasser. Du trinkst noch ein Glas Wasser. Du bist durstig. Du suchst einen Reim auf Wein und findest keinen.“ Das steht auf Seite 56 von 104 Seiten. Man könnte den Eindruck bekommen, wo man dieses Buch zu lesen anfängt, sei zweitrangig. Ich halte das für ein Plus.

Jedem Leser ist es aber freigestellt, (s)eine Geschichte zu finden. So eine Geschichte könnte folgendermaßen lauten: Ein Mädchen liegt im Krankenhaus, bekommt immer wieder Besuch, von der Schwester, von einer Freundin, von Verwandten, von anderen, die sie verwechseln will und von denen sie verwechselt wird. Zwischen (erfundenen) Abzählreimen und gewitzten Wechselspielen treten, wie unter die Lupe genommen, Details aus dem familiären Leben hervor, vermischen sich mit dem, was der Arzt (angeblich) sagt, was die Mutter sagt, mit Geschichten und Gespieltem. Und manchmal kommen die Details so nahe, dass man sie kaum mehr ausnehmen kann. Wie wenn man sich ein beschriebenes Blatt zu nahe vor die Augen hält.

„Das ist die Geschichte einer Frau“, heißt es zu Beginn, und soviel ist sicher.
Nicht nur ihr Fadenspiel spielt die Erzählerin allein, sie behauptet auch, gern allein zu sein. Ob man ihr das glauben soll? Unversehens ist sie erwachsen „46, sehr tierlieb, herzlich, feinfühlig“. Oder war das doch eine andere? Erwachsen werden will freilich auch die Erwachsene nicht. Da kann schon einmal jemand den Kopf verlieren. Das ist aber im Grunde halb so schlimm: „Ich wollte sie nur an den Haaren ziehen. Ich wollte ihr nicht richtig weh tun. Ich ziehe sie von hinten an den Haaren, und der Kopf reißt ab. Ich habe ihr den Kopf abgerissen. Er muss schon locker gewesen sein. Was soll ich jetzt mit dem Kopf machen? Ich werde ihn in eine Schachtel legen.“ Der Lesende darf das Buch so ernst nehmen wie er will. Ich habe viel gelacht, z. B. ob der guten Ratschläge, die dem Kind von Menschen, Müttern gegeben werden, oder die es sich selbst ausdenkt, „Nicht mit dem Ofen reden“ oder „Grünes Gemüse mit der Hand essen“.

Hier werden keine Personen eingeführt oder beschrieben, keine Dialoge aufgelöst. Alles ist einfach da und spricht, läuft, streckt sich. Ein natürlich gewachsener Text, wie ein blühendes Gestrüpp mit all seinen verschiedenartigen Bewohnern. Herrlich anzuschauen, aber man weiß, es gibt auch Stacheln und Stechmücken unter den glänzenden Blättern. Und für die Erzählerin gibt es Momente, da tun ihr sogar die Haare weh.

Ob es sich um Lyrik oder Prosa handelt, wird am Buchumschlag nicht verraten. Ich würde sagen, ein Prosalyriktheaterstück. Jedenfalls gibt es elf Kapitel.
Immer wieder fliegt der titelgebende Vogel durch die Zeilen, ab und zu auch in einen Mund, hinterlässt Zwitscherspuren „Ruhgu gugu. U ru ku. Ku kuu ru ku ku. Turr turr. Ruhgu gugu. Mein Brieftäubchen, du. Mein Blatthühnchen. Ku huu. Mein Blaukrönchen, mein Schwarzköpfchen, mein Rotkehlchen. Mein Elfenkäuzchen.“
Das Gezwitscher trällert zwischen den Sätzen hervor. Aber die Frage warum ist hier fehl am Platz. Um ein Warum geht es nicht. Es geht worum es uns allen geht; das Leben einzufangen aber an einer langen Leine zu halten, damit es nicht erstickt. So ein Buch kann nur eine Margret Kreidl schreiben. Hut (oder Federn) ab.

Und merken Sie sich:
„Alles sagen
Nichts glauben
Laut denken
Den Kopf nicht hängen lassen
Spät aufstehen, singen und lustig sein“

Margret Kreidl Eine Schwalbe falten
Textband.
Wien: Edition Korrespondenzen, 2009.
105 S.; geb.
ISBN 978-3-902113-64-1.

Rezension vom 10.02.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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