Aram, ein geflohener Syrer, soll abgeschoben werden. Er arbeitet bei Kampl in einer Notunterkunft für obdachlose Flüchtlinge. Kampl ist verzweifelt: „Ich brauche ihn“, fleht er den Amtsdirektor und langjährigen Bekannten Ludwig Blum an. Dieser schaut in Arams Akt und bemerkt viele Unstimmigkeiten. Nichts zu machen: Die syrische Botschaft ist informiert, die Abschiebung steht fest. Kampl appelliert an Blums Menschlichkeit. Er erinnert ihn an seine Flüchtlingshilfe an der Grenze zur Tschechoslowakei, als der Prager Frühling 1968 niedergeschlagen wurde. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde er vom Bundespräsidenten persönlich ausgezeichnet. Muss er nun auch in diesem Fall die Moral über die Dienstvorschrift stellen?
Aram wird inzwischen von der Polizei abgeholt und bald in einem Flieger gesteckt. Doch zur Abschiebung nach Syrien kommt es nicht – der dritte, schillernste und wichtigste Protagonist kommt ins Spiel: Nejat. Augenscheinlich dolmetscht der gebürtige Afghane für die Bundesbetreuungsstelle ins Deutsche. Doch hintergründig ist er ein Schleuser mit vielen Kontakten. Da Blum über den Dienstweg nicht vermag Arams Abschiebung abzuhalten, soll Nejat „helfen“. Es gelingt: Der bestochene Flugkapitän weigert sich Aram nach Syrien mitzunehmen, da von Abgeschobenen Randalierungsgefahr drohe …
Der Pakt mit dem Teufel ist nun beschlossen: Nejat fordert im Gegenzug, dass einige seiner Kunden aus dem Europäischen Aufnahmeregister gestrichen werden. Dabei bleibt es nicht: Blum soll einen Kühltransporter an der ungarischen Grenze abholen. Er hört, wie Menschen von innen klopfen und sich befreien wollen. Schockiert sucht er nach dem Schlüssel: vergebens. – Soll er nun die Polizei anrufen? Muss er sich dann selbst anzeigen? Er zögert einfach zu lange …
Der im Jahr 1983 in Freiburg im Breisgau geborene Autor zeichnet in seinem Roman eine griechische Tragödie nach. Die Protagonisten Blum, Aram und Nejat haben für sich Gründe so zu handeln, wie sie handeln. Jeder ist nicht ganz frei von Schuld, jeder hat etwas auf dem Kerbholz. Der Autor und Jurist für Asylberatung macht es uns wahrlich nicht einfach. Denn er löst das Schwarz-weiß-Denken und das Täter-Opfer-Verhältnis auf, lässt viele Schattierungen zu. Eindrücklich legt er dar, dass Flüchtlinge nicht nur unschuldig, Schleuser nicht nur raffgierig, Bürokraten nicht nur dienststur sind. Das Besondere: Jeder Protagonist beruft sich auf die Menschlichkeit. Ein Wort, das zur Worthülse geworden ist. Zipfel sensibilisiert uns zu Recht genau hinzuschauen: Ist mit Menschlichkeit am Ende nicht Geldmacherei, Abschottung, Vertuschung von früherer Verantwortung gemeint?
Auch wenn Schleuser Nejat in der Story immer mehr Macht gewinnt, ist er am Ende wirklich der Bösewicht? Oder ist es vielmehr die EU-Flüchtlingspolitik, die solch krude Konstellationen hervorruft? Hat sie nicht letztlich die Transporttoten – wie neulich im Burgenland – zu verantworten? Lässt nicht sie die Macht der Schleuser weiter anwachsen, da es keine legalen, niederschwelligen Wege in die EU gibt? Sie fordert Menschlichkeit und macht immer mehr die Grenzen dicht. Die Probleme im Umgang mit Flüchtlingen von heute sind strukturell jene von vor 12 Jahren. Hat sich bis heute Grundlegendes verändert?
Fazit: Mit seinem Roman Eine Handvoll Rosinen hat Zipfel einen beeindruckend-nachdenklichen Text vorgelegt. Brillant, raffiniert und spannungsreich beschreibt er die Ambivalenz seiner Figuren, die Vertracktheit der Konstellation, das „Schicksalshafte“. Indem er in die Vergangenheit geht, stellt er uns die Gegenwart unverblümt dar – fern jeglicher Sozialromantik. Ein veritabler „Roman der Stunde“ eines vielversprechenden Autors!