#Roman

Eine Geschichte in Weiß

Barbara Deißenberger

// Rezension von Lina Buxbaum

Wird Wien zum Schauplatz literarischer Texte, ist dabei meist nur jener Teil der Stadt westlich der Donau gemeint. Doch auch die Bezirke auf der anderen Uferseite, im sogenannten Transdanubien, bieten reichlich Potenzial für großartige Texte, wie Barbara Deißenberger in ihrem zweiten Roman Eine Geschichte in Weiß beweist.

Eine Stärke des Romans liegt in seiner multiperspektivischen Erzählweise. Neben der Ich-Erzählerin Minna tritt noch eine Vielzahl an weiteren Figuren auf, die aus personaler Perspektive zum Fortschreiten der Handlung beitragen. Ebenjene ist fast ausschließlich im Wiener Stadtteil Essling und der angrenzenden Aulandschaft der Lobau angesiedelt. Den Figuren ist an manchen Stellen auch ein ungewöhnlicher sprachlicher Duktus angelegt, etwa wenn aus der Sicht von Kindern erzählt wird. Dieser Effekt nimmt den vielen großen Themen im Roman die Schwere.

Erzählt wird vom Leben der beiden Frauen Minna Spierling und Valerie Granbirger in der Zeitspanne vom Herbst 2008 bis zum Sommer 2009. Ihre Lebensgeschichten sind von ihrer geschlechterspezifischen Sozialisation und ihren unterschiedlichen Geburtsjahren geprägt und man ahnt es schon, beide treffen im Verlauf der Erzählung aufeinander.

Die 1952 geborene Minna Spierling lebt alleine im ehemaligen Haus ihrer Eltern und widmet sich dort, nur unterbrochen von Spaziergängen mit ihrer Hündin Mandy, ganz der botanischen Malerei. Dabei kann die ehemalige Volkschullehrerin und Psychotherapeutin auf ein bewegtes Leben zurückschauen, das uns in Form von Rückblenden erzählt wird. Es sind diese titelgebenden Geschichten in Weiß aus dem Leben von Minna und Valerie, die diesen Roman so lesenswert machen. „Weiß hatte ich gedacht, man müsste Bilder in Weiß malen. Eine Farbe, die sich als solche entzieht. Dabei wirkt sie in ihrer Intensität auf uns wie Sonnenlicht. Bilder in Weiß, die Geschichten erzählen von dem, was man auf den ersten Blick nicht sieht“, heißt es dazu im Text. Eine solche Geschichte in Weiß ist auch Minnas weiße Veranda, zusammengebaut aus alten Fenstern und Türen hat auch sie Geschichte.

Die Geschichten in Minnas Leben sind jedenfalls zahlreich. Da gibt es den Vater, der als Jugendlicher in der NS-Zeit in ein Straflager deportiert worden war und dessen Geschichten Minna als Kind Albträume bereiten, die Heirat acht Tage nach der Matura, als ihre Schwangerschaft bekannt wird, oder die Scheidung von ihrem Mann, nach der sich Minna beruflich verändert und zurückkehrt zu ihrer geliebten Lobau.

Auch Valerie Granbirgers Leben birgt so einige Geschichten in Weiß. Als uneheliches Kind geboren, wird ihrer Mutter, die nur ein über ein geringes Vermögen verfügt, die Vormundschaft für Valerie aufgrund von „Verwahrlosungsgefährdung“ entzogen. Diese wird daraufhin in einem Heim untergebracht. Von ihrer Kindheit erzählt Valerie auch Minna, als sie eine Psychotherapie beginnt.

Jahre später ist Minna nun nicht mehr in ihrer Praxis tätig und Valerie zieht im fünften Schwangerschaftsmonat mit ihrem Partner Roland nach Essling. Doch die von Roland herbeibeschworene Idylle des Einfamilienhauses mag sich nicht einstellen. Als Julian auf die Welt kommt, bekommt sie hingegen eine Einsamkeit zu spüren, die wohl vielen frischgewordenen Müttern vertraut ist. Die Freundinnen wollen den weiten Weg aus dem Wiener Stadtzentrum nicht auf sich nehmen, die Babytrage wiegt schwer und zu den Nachbar:innen mag sich kein rechter Kontakt herstellen.

Als Valerie eines Tages Minna begegnet und herausfindet, dass sie Nachbarinnen sind, scheint eine Freundin gefunden zu sein. Doch Minna bleibt auf Distanz, möchte sie doch aus Gründen der Professionalität keinen näheren Kontakt zu ihrer ehemaligen Klientin aufnehmen. Letzten Endes gelingt es Valerie jedoch, eine neue Freundschaft zu knüpfen.

Zwei wesentliche Themen in Eine Geschichte in Weiß sind die Natur und die Malerei. Denn Minnas Leidenschaft gilt ganz der botanischen Malerei. Nicht Stillleben, sondern die „wachsende, wandelnde, lebende Natur“ ist es, die sie auf ihren Bildern möglichst detailgetreu darstellen möchte. Dem Kunstwerk wohnt jedoch auch immer ein interpretierender Blick inne, die Grenzen zwischen Natur und Kunst verschwimmen: „Malen – mein Anker. Natur – mein Kompass. Ich hab‘ meine auf Papier geschaffene Welt umrundet. Der wachsenden Stille in mir entspricht das stille Wachstum der Pflanzen.“

Hier wird eine weitere Besonderheit dieses Romans relevant, denn dieser ist mit zahlreichen Bildern der im Text beschriebenen Kunstwerke illustriert. Ein Spiel zwischen Text- und Bildebene entsteht. Die Bilder stammen von der Künstlerin Mischa Skorecz, die sich mit Vorliebe der botanischen Malerei widmet und die einige biographische Ähnlichkeiten mit der fiktiven Figur Minna verbinden. Welche Elemente des Textes im Detail fiktiv sind und welche Anleihen er an der Realität nimmt, lässt Barbara Deißenberger indes offen und lädt die Leser:innen damit auf eine lustvolle Erkundung ein.

Nicht nur Minna streift regelmäßig auf der Suche nach zu malenden Objekten durch die Aulandschaft der Lobau, auch Valerie beschäftigt sich als Geologin mit dem Schwerpunkt Fluvialmorphologie mit Gewässern und ist von der naturbelassenen Aulandschaft fasziniert. Da ist es nur folgerichtig, dass nicht nur die Auseinandersetzung mit ihrer Rolle als Frauen Minna und Valerie eint. War Minna noch selbst im Jahr 1984 im Protest gegen die Autobahn durch die Donauauen aktiv, ist es nun Valerie, die sich im Jahr 2009 gegen den Bau des Autobahntunnels unter der Lobau wendet und sich nach und nach mit anderen verbündet.

Barbara Deißenbergers Roman Eine Geschichte in Weiß greift ein Potpourri an Themen auf, die trotz ihrer Vielschichtigkeit alle in diesem wunderbaren Wienroman wie selbstverständlich ihren Platz finden.

Barbara Deißenberger Eine Geschichte in Weiß
Roman.
Hohenems: Bucher Verlag, 2022.
336 S.; geb.
ISBN 978-3-99018-625-1.

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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