#Roman

Ein Stück des blauen Himmels

Helmut Eisendle

// Rezension von Julia Danielczyk

Wenige Tage vor Helmut Eisendles Tod (am 20. September 2003) erschien sein letzter Roman unter dem Titel Ein Stück des blauen Himmels.
Der promovierte Psychologe hat sich zeit seines Lebens mit den Grenzen der Erkenntnismöglichkeit und den Irrläufen des Bewusstseins beschäftigt. Mit seinem ersten Roman „Walder oder die stilisierte Entwicklung einer Neurose. Ein programmiertes Lehrbuch des Josef W.“ hat Eisendle seine Schriftsteller-Karriere gestartet, die sich durch stete literarische Neuorientierung und häufigen Wechsel der realen Aufenthalts- und Wohnorte auszeichnete.

In Ein Stück des blauen Himmels zieht Eisendle einerseits Bilanz und schließt zugleich in Handlung und Figurenkonstellation den Bogen zu dem frühen Roman „Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand“, den er 1972/73 in Barcelona zu schreiben begonnen hat – mit der Entscheidung zur Existenz als freier Schriftsteller.

Wittmann, Estes und Sophie treten zwanzig Jahre später wieder auf, resümieren ihre gemeinsamen Wege, versäumten Möglichkeiten, verlorenen Träume und reflektieren darüber, was das Leben noch bringen wird.

Die Handlung erschließt sich aus philosophischen Gedankengängen und realen Streifzügen durch Wiens Caféhäuser bis nach Triest, wo der Protagonist Estes seine geschiedene Frau Sophie alljährlich trifft, um mit ihr den Hochzeitstag zu feiern. Eine Affäre war der Anlass für die Trennung vor fünfundzwanzig Jahren. Im Dialog mit Sophie ist der gemeinsame Freund Schubert Ausgangspunkt. Schubert, den Sophie bei seinem ersten Selbstmordversuch gerettet und der sich wenige Monate danach tatsächlich umgebracht hat.

Eisendles Figuren konstituieren sich durch ihr Sprechen, im Hinterfragen der eigenen Möglichkeiten entwickelt sich ein narrativer Strang des Erinnerns und des Bewusstseins. Wirklichkeit und Phantasie werden untrennbar eins. Im Zwiegespräch mit Wittmann (Karl Heinz Wittmann war ein Grazer Freund Eisendles, der zugleich auch als Vorbild für die Figur des Schubert diente), der sich formal als innerer Monolog strukturiert, überprüft Estes den eigenen Anteil am Tod des Freundes und landet bei der persönlichen Sinnsuche. „Du bist vom Mitleid mit einem Toten erfüllt. Dein Mitleid ist es, deines, Estes. Selbstmitleid.“ So reden wir über andere, denken indirekt nur an uns selbst. Ohne den unmittelbaren Weg dorthin zu suchen, umkreisen wir in Abwehrstrategien unvermeidlich das eigene Ich: „Angenommen jeder hätte eine schwarze Schachtel, darin wäre das, was man Seele nennt. Keiner kann dem anderen aber in seine Box schauen. […] Du kannst höchstens behaupten, dass du den Inhalt deiner eigenen kennst. Nicht mehr“, lässt der Autor Wittmann sagen.

„Eine seltsam traurige Geschichte“ lautete der Arbeitstitel des Buches, der Eisendles Wissen um die eigene tödliche Krankheit aufnimmt. Sein letzter Text konstituiert sich so als Reisebericht in den Erinnerungsschleifen seines Lebens. „Was hinter mir liegt, bestimmt meinen Weg. Es gibt keine Ziele, die mir Hoffnungen vorblenden, endlich mein Ich unter Umständen zu begreifen. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass mein Leben für mich nie woanders war als an dem Ort, an dem ich war oder bin,“ resümiert Estes gegen Ende des Buches.

Eisendles letzter Roman schließt sein umfassendes und facettenreiches Werk mit einem berührenden Bekenntnis zum eigenen ganz normalen Scheitern ab. Aber: „Mein Echo wird schallen“, hofft Estes und er wird recht haben.

Helmut Eisendle Ein Stück des blauen Himmels
Roman.
Salzburg, Wien, Frankfurt am Main: Residenz, 2003.
116 S.; geb.
ISBN 3-7017-1356-1.

Rezension vom 17.12.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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