#Roman

Ein Russe aus Kiew

Waltraud Mittich

// Rezension von Sabine E. Dengscherz

Winter 2020/21. Pandemie. Lockdown, wieder einmal. Das Leben steht still und die Erinnerung mäandert. Nimmt die Phantasie mit auf eine Reise quer durch Europa und durch die Zeiten. Spürt einem unbekannten Vater nach. Waltraud Mittichs Roman Ein Russe in Kiew ist Autofiktion und Reflexion, eine literarische Spurensuche rund um Familiengeschichte(n) – nicht nur in der eigenen Familie –, und eine sensible Annäherung an Identitäten, Identifikation(sfiguren) und Herkunftsfragen.

Die Autorin erschreibt sich einen Vater, dem sie nie begegnet ist und über den ihre Mutter, die „Kriegsbraut“, sich weitgehend ausgeschwiegen hat. Ein schöner Mann soll er gewesen sein. Der schönste. Sonst ist über ihn nicht viel bekannt. Außer dass er während des Zweiten Weltkriegs mit der Sowjetarmee gekommen ist. Dass er Russisch gesprochen hat. Dass er aus Kiew war. Ansonsten: Leerstellen, wohin frau schaut. Ein paar solche Leerstellen werden nun gefüllt in diesem Text, der sich gerne in Grenzgebieten aufhält und zu taumeln scheint zwischen Ländern, Regionen und Zeiten – was haben die Ukraine und Südtirol gemeinsam, in ihrer Mehrsprachigkeit und ihrem Hin und Her Gerissen-Werden zwischen diversen regionalen und überregionalen Herrschaftsansprüchen? Und was hat das alles mit den Menschen zu tun? Und mit der Literatur?

Waltraud Mittich ist im Salzkammergut und in Südtirol aufgewachsen, die Heimat ihres Vaters, die Ukraine, hat sie sich wiederum er-reist und er-lesen. So ist auch vieles Zitat in diesem Roman. Manchmal auch ein wenig Collage. Textpassagen aus früheren eigenen Büchern, Lektüre bekannter und weniger bekannter Autor:innen, Zitate und Überlegungen dazu, Dialog mit Ausstellungen, Filmen, Gedichten, Prosastücken. Immer wieder Joseph Roth, Paul Celan, Rose Ausländer, Czernowitz, Grenzlandliteratur. Nicht nur im Osten. Auch ein Kloster in den Südtiroler Bergen mit einer aufsässigen Äbtissin – Frauenpower, wo wir sie vielleicht am wenigsten vermutet hätten.

Frausein angesichts wechselnder Umstände in verschiedenen Phasen der Menschheitsgeschichte, auch so ein Thema, das den Roman begleitet. Und Schreiben. Immer wieder das Schreiben. Das eigene Schreiben, fremdes Schreiben, Lesen. Den Mut haben, selbst zu schreiben. Auch eine Frage der Herkunft. Bis zu einem gewissen Grad jedenfalls. Manche wagen es früher, andere erst spät. Und die Liebe. Leidenschaftliche Liebe im Film (Noodles und Deborah in „Once upon a time in America”) und die Liebe zu einem unbekannten Vater, Liebe in unterschiedlichen Spielarten, jede für sich einzigartig. Und Familie, immer wieder Familie. Nicht nur in der Vergangenheit (die eigene Kindheit in Armut), auch das Zukunftsweisende daran, Kinder und Enkelkinder – in einem weiteren mehrsprachigen Land: der Schweiz.

Und immer wieder zurück in die Ukraine. Mehr oder weniger am Vorabend des russischen Angriffskriegs 2022, der aber genau genommen schon viel früher begonnen hat, mit der Besetzung der Krim 2014. Der Roman, geschrieben 2020/21 macht das deutlich bewusst, auch im Ausdrücken einer Hoffnung, die sich später zerschlagen musste, der Hoffnung, dass die Bereitschaft so vieler Ukrainer, ihr Land zu verteidigen, Putin an weiteren Vorhaben hindern würde (S. 219). So konkret stand das offensichtlich schon vor dem Krieg im Raum, für jene, die bereit waren, es zu sehen.

Hochpolitisch und aktuell ist Ein Russe aus Kiew, auf verschiedenen Ebenen und auf grundsätzlich unaufgeregte Weise. Es ist ein reflexiver, autofiktionaler Text, der Themen unserer Zeit umkreist (Sprache und Identität, Kultur, Herkunft, Flucht und Migration, Macht und Legitimierung und und und), immer wieder bei bestimmten Fragen, Themen und Orten vorbeikommt und jedes Mal wieder neue Aspekte einbringt und die Perspektive ein klein wenig dreht. Gut ist es, die Erinnerung mäandern zu lassen. Und die Phantasie.

Waltraud Mittich Ein Russe aus Kiew
Roman.
Innsbruck: Edition Laurin, 2022.
336 S.; geb.
ISBN 978-3-903539-15-0.

Rezension vom 10.09.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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