#Prosa

Ein Rucksack voller Steigeisen

Erwin Einzinger

// Rezension von Ulrike Matzer

Der Mont Ventoux, jenes gut 1.900 Meter hohe Bergmassiv in der Provence, wurde im Zuge der Besteigung und Beschreibung durch den Dichter Francesco Petrarca im Jahr 1336 bekannt. In einem Brief schildert er das außergewöhnliche Panorama, das sich ihm vom Gipfel aus bot. Zum ersten Mal wird hier das Bergsteigen als Selbstzweck betrachtet. Kulturwissenschaftlich gilt dies als Schlüsselmoment an der Schwelle vom Mittelalter zur neuzeitlichen Natur- und Landschaftserfahrung; manche sehen darin bereits auch die Anfänge des Alpinismus.

Diese Episode ließe sich bildlich für Erwin Einzingers jüngstes Buch heranziehen, in dem das Besteigen von Bergen Leitmotiv ist – und das Schreiben per se sichtlich Zweck. Die 18 Kapitel des Bandes, denen stets Berg-Icons als Vignetten vorangestellt sind, laden uns ein, die Welt mit neuen Augen zu betrachten: „so eindrucksvoll zeigt sich das ganze Panorama“, heißt es bezeichnenderweise einmal. Ein stringentes Narrativ ist des Autors Sache nicht; vielmehr hält er uns dazu an, mit ihm durch diese Textlandschaft zu mäandern und – ganz wie beim wirklichen Wandern – bei jeder Etappe kleine, wundersame Entdeckungen zu machen. Was ihm des Weges kommt, wird aufgeschnappt und in dieses weltumspannende Poem integriert, und sei es noch so beiläufig oder banal. Allein wie er das macht, ist alles andere als dem Zufall überlassen. Wie ein großflächiges, in komplexer Musterung gefügtes Mosaik wirkt das, was Erwin Einzinger aus Sprache und Sprechweisen kreiert.

Ein Teil des Leseerlebnisses besteht sicher darin, in diesem Berg aus Sprache nach und nach eine Art Rapport auszumachen, eine Wiederholung von Mustern, von Motiven: Kaum mehr verwendete Mundartausdrücke begegnen einem dort und da (angewischerlt, Brustgeschirr, Zwutschgerl), desgleichen Marker der ländlichen Welt, die im Verschwinden begriffen sind (Heuschober, Sensen, Holzknechtlieder). Das einst so beliebte Gummihüpfspiel, das heutigen Kindern wohl kaum mehr was sagt, findet hier ebenso seinen Platz wie der hochsprachlich als Fernglas geläufige „Gucker“. Neben solche Residuen von einst gesellen sich Neologismen, die erst jüngst in den deutschen Wortschatz eingesickert sind (FlixBus, Elektroscooter, SUV), sowie Begriffe, die ein anderes Lebensgefühl evozieren: Wohlfühlpension, Katastrophenjahr, Verschwörungstheorien. Man merkt: Allerorten sind Strukturwandel im Gang, die Globalisierung und neoliberale Ökonomien haben sämtliche Winkel unserer Welt erfasst. So tummelt sich im „Land der Berge“ denn auch ein multinationales Figureninventar, nicht anders als in der Himalaya-Region, den Ostkarpaten oder am Ural. Und diese durchs Bild huschenden Personagen sind ohnehin nur Mittel zum Zweck, diverse Formen des Erzählens, Berichtens, Kommentierens durchzuspielen. Diese ständige Bewegung, der permanente Wechsel der Perspektive treibt das Geschehen voran und hält einen bei der Lektüre gehörig auf Trab.

An mehrdeutigen Verweisen auf das Schreiben mangelt es wie üblich bei Einzinger nicht; so manches Insert ließe sich auf sein eigenes Vorhaben beziehen. Bereits Buchseite zwei legt diese Lesart nahe: „Einer seiner Freunde trägt sich schon seit längerem mit dem Gedanken, Material zum Thema ‚Mensch und Berge‘ anzuhäufen, um es irgendwann vielleicht zu publizieren. Daß da auch Unfälle und Katastrophen eine Rolle spielen würden, war wohl zu erwarten.“ In der Tat bildet dies ein wiederkehrendes Motiv, die ganze Palette möglichen Unheils im Gebirge, scheint’s, findet sich hier im Buch durchdekliniert. Regelrechte Listen, die an Lexikoneinträge gemahnen, formieren sich vor dem inneren Auge der Leserin, auch angesichts der Nennung berühmter Männer aus Kunst und Kultur (an Frauen sind – wen wundert’s? – nur Jazz-Gitti und Isadora Duncan vertreten), oder der Aufzählung unguter körperlicher Geschichten, vom „Mundgerücherl“ über Pusteln bis zur Krampfadern-OP. Wir dürfen uns den Autor beim Schreiben wohl über solch‘ sorgsam angelegten Wortregistern sitzend imaginieren, umgeben von Atlanten, Naturheilkundebüchern, Kinderenzyklopädien … Seine literarische Leistung besteht darin, dies alles so leichthändig wie virtuos zu arrangieren, dass immer mal wieder irgendwo, irgendwie Teilchen davon aufblitzen, was über die gesamte Textfläche hinweg ein horizontales Oszillieren bewirkt.

Auf dieses Making-of wird im Buch selbst wiederholt verwiesen – in aparten, teils verquasten Bildern, bei denen man nicht umhinkann, sie auf die Anlage des Ganzen zu beziehen: „Ob flinke Fliesenleger oder begabter Goldschmied: Beide müssen irgendwie das Grobe und das Feine balancieren und zum Leuchten bringen. Und die Freude, wenn am Ende eines Tages etwas gut gelungen ist, zählt viel mehr als jedes Lob.“ Fraglos versteht der Autor es auch, „emotionsgeladene Exkurse einzubauen und fremde Kraftquellen ausgiebig anzuzapfen, mit deren Hilfe er zu einem Rhythmus im Erzählen findet, der zwischendurch sogar begeistern kann.“ Zu dieser Rhythmisierung tragen auch Wortzusammensetzungen bei, die visuell wie Buchstabenschlangen wirken und akustisch wie zungenbrecherische Rap-Passagen: Schmalspureisenbahnverbindung, Waldameisenpopulation, Schützenvereinslokalgeschichten, Hinterhoffriseursalon. Und gelegentlich finden sich gleich mehrere der Einzinger’schen Stilelemente ineinander verschachtelt: „Es gibt auch hier natürlich Ehebruchsgeschichten, Glanz-und-Gloria-Geschichten und Kaminfeuergeschichten. Selbst Eiertanzgeschichten und Beschwerdebriefkastengeschichten kommen vor. Waldbrandgeschichten mehren sich im Sommer je nach Blitzschlaghäufigkeit.“ Mit dem Schaffen des Autors gut Vertraute werden immer wieder auch Querverbindungen zu anderen seiner Werke finden: Die Gold-Metapher etwa durchzog schon den Kirgisischen Western, und allenthalben tönen aus den Seiten Sounds, wie einst in der Geschichte der Unterhaltungsmusik. Nicht nur die zahllosen Mini-Episoden in jedem Band greifen Zahnrädchen gleich ineinander, auch die einzelnen Bücher, ob Gedichtsammlungen oder Romane, kommunizieren immer irgendwie.

Mit seinem Œuvre hat sich Erwin Einzinger einen ganz eigenen Platz in der österreichischen Literatur erschrieben. Als ein „stiller Gigant“ (wie einer ihn nannte), der in keine Schublade gepresst werden will, der sich dem ‚International Style‘ des Erzählens seit je widersetzt und dessen Werk folglich so gut wie unübersetzbar ist. Nicht anders als die, die seine Schreibweise schätzen, weiß er durchaus um seinen besonderen Wert – was manche Passagen im vorliegenden Band auch auf diskret-verschmitzte Weise vermitteln: „Dennoch passieren immer wieder Dinge, mit denen niemand rechnen konnte. So etwa erklärte vorgestern ein Herr mit sanfter Stimme auf einem Kultursender, daß Bücher, wenn sie denn gelungen seien, zumindest insgeheim stets ein Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit vermitteln müßten.“ Als einer, der in seinen Werken die treffendsten Autokommentare immer schon selbst aufbietet, nimmt er sogar der Kritik das Heft aus der Hand. Das mache ihm einmal eine(r) nach!

Erwin Einzinger Ein Rucksack voller Steigeisen
Geschichten.
Salzburg: Jung und Jung, 2023.
336 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99027-276-3.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor

Rezension vom 23.03.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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