Wie konnte sich doch der Vater, ehemaliger kaiserlicher Diplomat und Industriesyndikus an der Botschaft in Afrika darüber mokieren, daß einige der Besucher es wagten, während langer Sitzungen das Jacket abzulegen, ja sogar die Ärmel hochzukrempeln (und das bei fast 40 Grad Celsius)! Bis heute bleibt dem Sohn, dessen Standpunkt man wohl als liberal-konservativ bezeichnen darf, nichts als Befremden. Und dann, einige Kapitel später, der Bericht aus den Tagen nach der ‚Befreiung‘ (im von den Russen okkupierten Dahlemer Haus mußte nun auch Elisabeth Siedler den neuen Gästen aufwarten), als Wolf Jobsts Mutter dem Dienstmädchen nicht verzieh, daß es die Herrschaft unter diesen Umständen als Frau Siedler titulierte. Selbst ein halbes Jahrhundert später ist die Rückkehr zur Normalität der „Gnädigen Frau“ für den Autor selbstverständlich, so selbstverständlich, daß ihm nun unser Befremden, das der nach dem Krieg Geborenen, entgegentritt. Fasziniert und ungläubig stehen wir vor einer untergegangenen großbürgerlichen Welt, vor Brüchen und Zwiespältigkeiten einer Epoche, deren Unerklärlichkeiten nicht nur aus dem Erinnerungsvermögen resultieren, sondern aus den Umwälzungen der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse selbst.
Es war vor allem die preußische Erziehung zum „Angemessenen“, deren Wurzeln bis in die Zeit der Urgroßmutter (einer Gerson) zurückverfolgt werden, die den jungen Menschen von Anfang an begleitete. Dazu gehört der Umgang der Industriellenfamilie mit dem preußischen Adel und der Generalität ebenso wie die Selbstverständlichkeit, mit der allein dem Familienoberhaupt (übrigens nicht anders als in den unteren Klassen) Fleisch zukam (und auch das nur sonntags). Ausschweifungen dieser harmloseren Art scheiterten nicht an den finanziellen Möglichkeiten, sie waren mit dem Ideal von Zucht und Selbstbeschränkung unvereinbar.
Daß Siedlers Biographie dafür Zeugnis, das heißt, den Stoff und zugleich die Widersprüche liefert, die historische Wahrheiten (aber was sind die?) in Frage stellt, korrigiert, aber auch ignoriert, macht dieses Buch zu einem unverzichtbaren Komplement dokumentarischer Formen der Geschichtsaufarbeitung; der aktuellen Wehrmachtsausstellung etwa, von der der Autor, en passant, wenig hält.
Wir sehen eine Familie, für die Hitler nur ein ekelhafter Schreihals war („Die bramarbasierende Redeweise der Nazis nahm niemand ernst“), die Mutter, wie sie die jüdischen Mitbürger mit Lebensmittelkarten unterstützte, und dennoch mit dem „traditionellen Antisemitismus der Konservativen“ in der eigenen Verwandtschaft kaum Probleme hatte. Wir sehen einen jungen Schüler, für den die in Ostpreußen verbrachten Ferienwochen noch in den 30er Jahren von einem „friedlichen Schimmer“ getragen waren und der die Schulzeit im Internat Schloß Ettersburg als heile, „abgeschlossenen Welt“ empfand. Warnschilder mit dem Totenkopf, nächtliche Schüsse, Sirenengeheul oder Hundegebell, die von einem in der Nähe eines „Buchenwaldes“ gelegenen KZ zeugten, störten die Idylle nicht: „man interessierte sich auch nicht sehr dafür“. Mit solchen Verharmlosungen, die mitunter auch noch aus den Äußerungen des heutigen Autobiographen herauszuhören sind, war es zum Jahreswechsel 1943/44 erst einmal vorbei, als der Siebzehnjährige zusammen mit dem Freund, dem Sohn Ernst Jüngers, denunziert und vor ein Militärgericht gestellt wurde und nur durch ’schützende Hände‘ und viel Glück einer Todesstrafe entging. Gefragt, was er während des halben Jahres der Haft lesen wolle, die Bibel oder „Mein Kampf“, entschied sich der als Rädelsführer einer Widerstandsgruppe Verhaftete für letzteres – und war wider Willen fasziniert; vor allem von der Einsicht, wie unverhüllt der ‚Führer‘ seine Verachtung des Volkes und vor allem des ihn unterstützenden Kleinbürgertums aussprach. Die Begnadigung zur „Frontbewährung“ brachte Siedler nach Italien, wo Ernst Jünger junior schon nach wenigen Tagen, wohl auf einem Himmelfahrtskommando, in den Marmorbrüchen von Carrara fiel.
„Glück“ dagegen, wie Siedler es noch heute empfindet, war es, daß er selbst verwundet wurde und im Lazarett von Abano Terme die letzten Kriegstage als eine Art Urlaub erlebte. Die englische Gefangenschaft führte ihn schließlich nach Afrika, wo er auf den Spuren seines Vaters und im Abglanz des Kolonialzeitalters als Mitarbeiter der Reeducation Programme die Jahre 1945-47 in der Nähe von Alexandria und zeitweise in Benghasi verbrachte.
Siedler scheut sich nicht, die Zwiespältigkeit der ‚Befreiung‘ und des Kriegsendes für sich und seine Familie zur Sprache zu bringen. Ebensowenig scheute er später vor Irritationen zurück, als er als Verlagslektor so unterschiedliche Autoren wie Speer, Gorbatschow, Malraux, Ernst Jünger, Franz Josef Strauß oder Böll, Goldhagen und Victor Klemperer edierte oder sich für junge Künstler wie Celan, Johnson, Grass oder Walser stark machte. Es soll Dinners im Hause gegeben haben, wo Heinrich Speer, Hans Wallenberg, Johannes Groß, Joachim Fest und Joachim Kaiser als Gäste zugegen waren. Und mehr ungläubig als verunsichert berichtet der Autor von der Reaktion seines Freundes Georg Heinrichs – halb Jude, halb Russe – der nicht verstehen wollte, mit welcher „Milde“ Siedler Emigranten, ehemalige KZ-Häftlinge, Naziminister und Sympathisanten des östlichen Satellitenregimes an einen Tisch setzen konnte.
Man mag sich an dem Ton stören, mit dem misogyne Witze wiedergegeben oder von den gar nicht adonishaften Zügen jüdischer Freunde erzählt wird, man mag befremdet sein über manch ästhetisches Urteil (Verständnis dafür, daß die Mehrheit der Deutschen nicht das schätzte, was auf der Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt wurde; die Ansicht, die Theaterzettel von 1942 hätten fast gleich ausgesehen wie in den Zwanzigern, oder die Spengler-Verehrung: „ein Revolutionär!“) – eines muß man Siedler zugestehen: Respekt und Achtung vor der stets als letzte Instanz begriffenen eigenen Meinung und Gesinnung, welche selbst unangenehme ‚Wahrheiten‘ auszusprechen wagt; etwa die, daß gleich nach dem Krieg der Holocaust selbst unter den Siegermächten noch kein Schock gewesen sei oder die DDR, intellektuell gesehen, schlimmere Folgen zeitigte als das Naziregime (im übrigen seien die Ost-West-Ressentiments nicht neu: auch für das Elternhaus bedeutete der Osten Berlins schon immer das ganz Andere. Man lebte in den Villengegenden des Grunewalds und in Zehlendorf und kannte den Alexanderplatz und den Ochsenmarkt höchstens aus den Romanen Döblins. Osten, das waren die Arbeiter, das jüdische Scheunenviertel und die Kriminalität. Eine Terra incognita). Einmal mehr gilt das Motto von Max Frisch, daß ein jeder sich eine Geschichte erzählt, die er am Ende für sein Leben hält.
Als Siedler 1947 nach Deutschland zurückkehrte, tauschte er das Studium gegen die spannendere Literaturvermittlung aus. Doch Toleranz, Mut und Eigensinn bestimmten auch seine verlegerische Tätigkeit – und: Nähe und Distanz zum eigenen Leben. Zwischen dem ‚Tag von Postdam‘, als der gerade Siebenjährige die Autokavalkade mit Hitler und Hindenburg an sich vorbeifahren sah, und dem Ende des Buches, in dem sich Schrecken, aber auch die Wahlverwandtschaft zu den partisans of sinking ships mischen, ist es dem Essayisten Siedler jedenfalls großartig gelungen, „das Klima der Zeit greifbar“, ja nachschmeckbar zu machen. „Vielleicht werde ich mich herausgefordert fühlen, auch dem weiteren Gang meines Lebens zu folgen…“ Hoffen wir auf ein „Fortsetzung folgt“.