#Sachbuch

Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard

Peter Fabjan

// Rezension von Judith Leister

Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard heißt das Buch von Peter Fabjan über den 1989 verstorbenen Schriftsteller und österreichischen Staatspreisträger. Wie angenehm mag das Leben an der Seite des Chef-Misanthropen der österreichischen Literatur gewesen sein? Der Untertitel lautet „Ein Rapport“. Rapporte kennt man vom Militär, als pflichtmäßige Berichte an Vorgesetzte.

Zunächst einmal: Peter Fabjan ist der Halbbruder von Thomas Bernhard. Den sieben Jahre Älteren, der in den 1960er Jahren erste literarische Erfolge feierte, hat er ein Leben lang unterstützt. Das muss eine mehr als undankbare Aufgabe gewesen sein: Bei Begegnungen Bernhards mit Prominenten zum Beispiel musste Fabjan meist am Nebentisch sitzen. „Mein Status lag kaum über dem eines Chauffeurs“ (S. 158), schreibt er lakonisch.

Nachdem bei Bernhard Morbus Boeck diagnostiziert worden war, wurde der Internist Fabjan auch noch zum Leibarzt seines Bruders. Nach dessen Tod war er für das Testament zuständig, mit dem Bernhard für siebzig Jahre ein Aufführungs- und Druckverbot in Österreich durchsetzen wollte. Als Universalerbe kümmerte sich Fabjan außerdem um die drei Gehöfte, die Bernhard gekauft und restauriert hatte, und die heute teilweise zu besichtigen sind.

Peter Fabjan hat seine Erinnerungen niedergeschrieben – obwohl sein Bruder zu Lebzeiten hat wissen lassen, dass ihm die Vorstellung, seine beiden Geschwister könnten nach seinem Tod über ihn Auskunft geben, nicht gefalle (vgl. S. 12). Auf das Buch gedrängt hatte vor allem der Bernhard-Lektor Raimund Fellinger. Der Cheflektor bei Suhrkamp ist allerdings letztes Jahr verstorben und konnte die Publikation nicht bis zum Schluss begleiten.

Das Ergebnis ist nun eine lose Materialsammlung mit Porträts der Verwandtschaft und „für Thomas Bernhard wichtigen Menschen, die ich mit ihm erlebt habe“ (vgl. S. 132-145). Außerdem enthält das Büchlein Kleinst-Dossiers zu gemeinsamen Reisen, den Krankheiten des Autors sowie unbekannte Briefe und Fotos, die den Schriftsteller meist in kurzer Trachtenlederhose zeigen. Literarisch elaboriert sind Fabjans Texte nicht, eher betont trocken, und teilweise in spröder Listenform angelegt, wie „Die Krankengeschichte in groben Teilstationen“ (vgl. S. 169). Auch über sich selbst spricht Fabjan, berichtet vom Medizin-Studium und seiner früheren Praxis im Salzkammergut. Das ist nicht ohne Bezug zum Thema: Bernhard hat für seine Bücher ziemlich ungeniert auf das medizinische Wissen des Bruders zugegriffen.

„Meine Krankheit ist die Distanz“, schrieb Thomas Bernhard einmal an Peter Fabjan. Dafür dürfte die Beziehung zur Mutter, Herta Bernhard, ausschlaggebend gewesen sein. Der 1931 geborene Thomas war ein uneheliches Kind. Herta musste ihren Sohn mit wenigen Monaten in ein Pflegeheim geben, um Geld für ihren Vater, den erfolglosen Heimatdichter Johannes Freumbichler, zu verdienen. Zu den erschütternden Details gehört: Bei ihren Besuchen durfte sie das Kind nicht berühren. Damit wollte die Heimleitung lästiges Geschrei beim Abschied vermeiden.

Die schwarze Pädagogik hatte schon bei Herta Spuren hinterlassen. Über ihre Kindheit und ein Geschwisterkind berichtet Fabjan: „Die etwa dreijährige Herta, von den Eltern mit dem Säugling allein gelassen, häuft auf das in einem Gitterbett schreiende Baby so lange Holzscheite, bis das Schreien aufhört. Der Säugling ist tot. Als die Eltern zurückkommen, ist ihre größte Sorge: Wird der herbeigerufene Hausarzt ihnen glauben und auf eine Anzeige verzichten? Die Geburt wird nicht amtlich.“ (S. 54)

Obwohl Thomas Bernhard seinen Großvater Johannes Freumbichler sehr verehrte, war ausgerechnet er es, der den Jungen auf ein Internat schickte, eine nationalsozialistische Kaderanstalt, die nach dem Krieg bei gleichem Erziehungsstil katholisch wurde. Bernhard hasste die Schule, musste sie 1947 wegen schlechter Leistungen auch abbrechen und fing eine Kaufmannslehre an, bei der er sich eine Lungenkrankheit holte, die ihn ein Leben lang begleiten sollte. Anfang 1949 wird er in ein Krankenhaus eingeliefert, in das auch sein Großvater kommt. Bernhard erhält die letzte Ölung, doch es ist der Großvater, der stirbt. In der Erzählung „Der Atem“ inszeniert er diesen Moment als Entscheidung zum Leben und verklärt ihn zu seiner Geburtsstunde als Künstler.

Bernhard hat seinen Großvater als seinen ersten „Lebensmenschen“ bezeichnet. Wahrscheinlich bewunderte er die Radikalität seines Lebensentwurfs und den Willen zum Künstlertum. Fabjan schreibt: „Heute glaube ich, man könnte unseren Großvater mit einem Quantum Vorbehalt als den Vertreter einer selbstbegründeten Ideologie, ja Religion sehen.“ (S. 57) Für Freumbichlers Frau und Tochter bedeutete das allerdings, dass sie sich für geringstes Geld verdingen mussten, um ihn zu ernähren.

1950 starb auch Herta Bernhard. Fabjan schreibt, dass Thomas Bernhard sein Leben lang mit den Verlusterfahrungen seiner Kindheit rang. Er sei eifersüchtig auf die Geschwister Peter und Susanna gewesen, die über eine ‚richtige‘ Familie verfügten – Herta Bernhard hatte 1936 den Friseur Emil Fabjan geheiratet, von dem Bernhard sich nicht geliebt und anerkannt fühlte. Peter Fabjan schreibt diplomatisch: „Die Schwester und ich erlebten ihn als den in eine ferne Welt entrückten, uns in Zuneigung wie Distanzbedürfnis verbundenen Bruder. Unsere Zuneigung durften wir ihm nicht schenken, sie wurde erwartet und musste ein Leben lang bewiesen werden.“ (S. 18) Und er berichtet weiter: „Er konnte von übermäßiger Warmherzigkeit an einem Tag zu Eiseskälte am anderen wechseln“ (S. 153). Immer wieder brach Bernhard den Kontakt zu Verwandten, auch zu seinem Bruder, ab.

In Gesellschaft dagegen gab Thomas Bernhard gern den charmanten Alleinunterhalter und verhielt sich dabei offenbar wie ein Schauspieler auf einer Bühne. Raimund Fellinger pflegte zu sagen: „Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard.“ Er traf sich mit Politikern, Architekten, Regisseuren, Schauspielern, Kleinadeligen wie Hocharistokraten, sogar mit einem römischen Erzbischof. Einmal verabredete Fabjan eine Begegnung zu dritt mit Paul Wittgenstein, einem manisch-depressiven Verwandten des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Geplant war ein Segeltörn auf dem Traunsee. Doch aus dem Fiasko an einem windstillen Tag wird in Bernhards Literatur ein gelungener Segeltörn, aus der Begegnung geht die Erzählung „Wittgensteins Neffe“ hervor.

Neben dem Großvater war die fast 40 Jahre ältere Hedwig Stavianicek ein „Lebensmensch“ für Thomas Bernhard, eine von mehreren mütterlichen Freundinnen, mit denen der „asexuelle“ (S. 21) Bernhard Beziehungen unterhielt. Bis in die späten 1960er Jahre sprach die Ministerialrats-Witwe Fabjan in der dritten Person an, „wie es in ihren Kreisen dem Personal gegenüber üblich ist“ (S. 149). Stavianicek und Bernhard wohnten zeitweise beim jeweils anderen, philosophierten stundenlang oder schauten gemeinsam fern. Eine Zeitlang übernimmt Bernhard sogar die Pflege der zuletzt bettlägerigen Frau, bemüht sich im Spital wie ein Sohn um die Sterbende. Nach ihrem Tod 1984 denkt er, nicht zum ersten Mal, an Selbstmord, und sagt zu seinem Bruder: „Jetzt brauch ich dich!“ (S. 152)

Trotz der lebenslangen Vereinnahmung will Peter Fabjan nicht von einem „gestohlenen Leben“ sprechen, sondern im Gegenteil von einer „Ehre“ (S. 191) und befindet: „Schade, dass ich so wenig Kraft hatte, diese Situation anders als mit hinhaltender Gefolgschaft zu meistern.“ Fabjan schreibt zurückhaltend, mit Zartgefühl und großer Loyalität, anders als sein Bruder, der streng im Urteil und absolut in der Verdammung war. Auf sanfte Weise rückt er einige Dinge zurecht, die er anders beurteilt als sein Bruder, etwa sieht er den Freumbichler-Großvater in weniger rosigem Licht und die Rolle seiner eigenen Eltern positiver. Um einen Rapport, eine Pflichtübung, handelt es sich bei diesem Buch also Gott sei Dank nicht, obwohl Peter Fabjan es sicherlich für seine brüderliche Pflicht gehalten hat, es zu schreiben.

Peter Fabjan Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard
Ein Rapport.
Berlin: Suhrkamp, 2021.
195 S.; geb.
ISBN 978-3-518-42947-1

Rezension vom 19.03.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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