#Prosa

Ein Jahr aus der Nacht gesprochen

Peter Handke

// Rezension von Florian Braitenthaller

Aufzeichnungen, Notizen und Skizzen begleiten das Schriftstellerleben Peter Handkes von Anfang an. Doch was der Verlag Jung und Jung nun mit Ein Jahr aus der Nacht gesprochen vorlegt, eröffnet eine neue literarische Dimension. Ein rasches Durchblättern zeigt lose Sätze, höchstens drei bis vier pro Seite, kurze, isoliert stehende, die kaum die obere Hälfte „füllen“. Die untere ist leer. Auf diese Weise wird viel leerer Raum produziert, der den Leser als provokante Leere fortwährend anstarrt und einen Angriff auf die Ökonomie der Leseerwartung darstellt.

Von seiner Gestaltung her lässt das Buch mit dem biegsamen Einband und den halb vollen Seiten an ein Notizbuch denken. Das dürfte dem Ansinnen des Autors durchaus entsprechen, handelt es sich bei diesen Aufzeichnungen doch um Sätze, die Handke beim Aufwachen ins Halbbewusstsein treten. Die Notate werden so zu Dokumenten seiner Aufwachpraxis, und sie spiegeln sowohl das Phänomen des Übergangs vom Schlafen zum Wachsein als auch die seltsame sprachliche Verfügbarkeit dieses Vorgangs wieder. Wobei Handke darauf verzichtet, etwa den Vorgang des Aufwachens selbst zu beschreiben: Die Sätze sind gewissermaßen Fundstücke.

Schwellen und Übergänge, das Phänomen der Grenze und ihrer Überschreitung haben den Autor schon immer beschäftigt. Genaue Beobachtung, exakte Reflexion und der konsequente Wille, beides in einem sprachlich-stilistisch exzellenten Satz zur Synthese zu bringen, kennzeichnen seine Sprache. Formal fällt an diesen der Morgendämmerung geschuldeten Sätzen eine eigenwillige Interpunktion auf, der durchgehende Verzicht auf den abschließenden Punkt. Nur Ausrufe- und Fragezeichen beenden bisweilen einen Eintrag, der stets unter Anführungszeichen steht und formal wie eine direkte Rede aussieht. Aber wer spricht da? Wer ist der Autor im Sinne von „auctor“, der Urheber eines Textes, der „Mann der Feder“?

Viele dieser Schwellen-Sätze sind nicht nur formal offen, sie wirken wie ohne Ende, und hinterlassen einen Klang, der auf ein Abwesendes verweist. Bisweilen ist ein Anklang an Bekanntes zu vernehmen, an Sprichwörter, Texte anderer Autoren, Verse aus der Bibel. „Reicher, kommst auf’m Kamel durch’s Nadelöhr in’n Himmel“ ist die Verballhornung des Spruches „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel gelangt“. Aus dem Original, hinter dem eine Drohung verborgen lag, wird im Handke-Satz eine launische, mundartliche Beruhigungsgeste. Durch das Aushebeln des Urtextes in der Persiflage – und in diese Kategorie fallen viele Fragmente des Buches – werden mehr oder weniger bekannte, zu Formeln erstarrte Textpassagen durch andere Anordnung und den einen oder anderen Wortaustausch einer Verfremdung zugeführt, manchmal auch unkenntlich gemacht. Ein Um-Schreiben, Bekanntes verunstalten, um auf diesem Weg doch wieder darauf zu verweisen?

Aussagesätze, Aufforderungen, Fragen bilden das ganze Spektrum der deutschen Sprache ab. Und es gibt direkte Ansprachen an ein Du. „Du bist mein Untergang, aber es gibt Schlimmeres“ Gedankensplitter, Abstruses, Dialoghaftes. Während man so liest und umblättert, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier eine Ordnung herrscht, deren Gestaltungsprinzipien einem nicht zugänglich sind. „Wie finde ich dich?“ – „Ich habe einen Schlüssel“ Enigmatisch. Poetisch. Absurd. Gleichzeitig sympathisch reihen sich die Bruchstücke aneinander.

An Themen begegnen Fußball, das Unterwegssein, die Literatur, Dichter, Philosophen: all das, wo der Autor sich sinnlich, gedanklich und lesetechnisch bewegt, räumlich, im Haus der Sprache. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken sind miteinbezogen. „Er hat die Hand in den Fluß der Träume gesteckt und sie trocken wieder herausgezogen“ Dazwischen finden sich zitierte Buchtitel oder Operntitel. Es herrscht eine Traumlogik, vor allem in den dialoghaften Skizzen ist oft kaum ein Sinn auszumachen.
„Was ist die Gefahr an dem Ort, an dem wir schlafen?“ – „Ich bin sein Autor“
Ein Spiel mit Unwahrscheinlichkeiten. „Was vergangen ist: Hilflos beginnt’s“
Anflüge von Humor. „Es kann zur Schrift kommen, aber es kann auch zu nichts kommen“
Kontraste. Das Unerwartete, Verblüffende, Perplexe. „Finden dauert länger als Suchen“
Ist wirklich das Gegenteil richtig? Beginnt man durch das Lesen solcher Sätze, das Selbstverständliche, das für selbstverständlich Gehaltene anzuzweifeln? Der Logik des Alltagsverstandes zu misstrauen?

Was sind das für Gedanken, die Peter Handke beim Aufwachen beschäftigen? Sprachspiele? Oder die Verdrehung des Gewöhnlichen? Im Text spricht sich zudem der Trotz eines Kind Gebliebenen aus: das Recht-Haben-Wollen gegen jede Vernunft, die Freiheit eines Künstlers, der unermessliche Spielraum eines Sprachjongleurs. „Lassen Sie mich raten, wer Sie sind. Sie sind, was man früher einmal einen Mann der Feder genannt hat“ Und der Dichter präsentiert Gedanken, die sich alle Freiheit nehmen, vom Sinnzwang des Tagesbewusstseins, von der Logik, von der Ordnung des Daseins. Ein Jahr aus der Nacht gesprochen ist ein komplexes Dokument von Peter Handkes Mitteilungslust einerseits und einer erschwerten Zugänglichkeit andererseits. Mit diesem Aufschreibesystem bewegt er sich am Rande der Mitteilungswilligkeit.

Glückliche Zeiten, in denen ein solch grenzgängerisches Buch das Licht der Welt erblickt.

Peter Handke Ein Jahr aus der Nacht gesprochen
Journal.
Salzburg, Wien: Jung und Jung, 2010.
216 S.; brosch.
ISBN 978-3-902497-80-2.

Rezension vom 27.09.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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