#Lyrik
#Anthologie

Ein Alphabet der
Visuellen Poesie

Günter Vallaster (Hrsg.)

// Rezension von Birgit Schwaner

57 Autorinnen und Autoren, zumeist aus Österreich, beteiligten sich – mit je einer Arbeit (bzw. Seite) – an der von Günter Vallaster herausgegebenen Anthologie Ein Alphabet der Visuellen Poesie. Eine so hohe Anzahl Beitragender verspricht per se schon Abwechslung – sie garantiert aber keineswegs, was dieser schmale, broschierte Band, an beliebiger Stelle aufgeschlagen, seinen Lesern/Betrachtern bietet: eine anregende Fülle einander bereichernder „Blickwinkel aufs“ und „Erkundungsversuche zum“ Wesen der Buchstaben. Die kleinstmöglichen Schrifteinheiten gelten hier, ganz im Sinne der visuellen Poesie, wenigstens zweifach: als Bild sowie Laut- und Bedeutungsträger.

Die visuelle Posie rückt, wie man weiß, ihren Gegenstand Sprache in einen mehrdeutigen „Grenz- und Übergangsbereich zwischen Sprache und Bild“ (Vallaster). Dorthin, wo Buchstaben, Wörter und Sätze vor unsern Augen changieren, sich dezidiert einer eindeutigen Lesart verweigern. Wenigstens zwei Künsten angehören wollen: Literatur und bildender Kunst.

Zwischen den beiden Disziplinen gab es immer Grenzüberschneidungen (so der Titel einer früheren Vallaster’schen Anthologie). Und dies – worauf das Nachwort verweist – gehäuft in Epochen gesellschaftlichen Aufruhrs, wenn mit bisherigen Weltbildern auch ästhetische Konventionen erschüttert, ja brüchig wurden und Künstler die Grenzen ihrer jeweiligen Medien ausloteten und reflektierten, um sich neue, adäquatere Ausdrucksformen zu erschließen. Vorläufer der visuellen Poesie findet man in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bei Dadaisten, Surrealisten und Expressionisten. Oder, naturgemäß, bei der konkreten Poesie, die, nach dem 2. Weltkrieg in der Schweiz entstanden (Protagonisten: Eugen Gomringer, Max Biller), auch von den Dichtern der Wiener Gruppe gefördert wurde. Und heute? Im Zeitalter der sogenannten Globalisierung, wo die demokratischen Werte zu zerfallen scheinen, die einem ungezügelten, imperialistisch auftretenden Kapitalismus – bzw. dessen Verfechtern und Profiteuren – zuwiderlaufen?

Blättern wir kurz im Alphabet der Visuellen Poesie:

Seite 37: Christian Katt nimmt eine Schwarzweiß-Abbildung des Planeten Erde, überblendet sie großteils mit einem quadratischen Schatten und zeichnet darüber-darunter-darein unzählige kleine, runde Bläschen: Zusammenklumpungen des Buchstabens „O“, der als chemisches Zeichen für Sauerstoff (Oxygen) steht. Assoziationen: Atem, Lungenbläschen – aber auch Laich (Fruchtbarkeit, „Natur“), der beim Staunen geöffnete Mund, die heilige Silbe „Om“ … Katt kommentiert im globalen Pidgin der Gegenwart: „all them o’s are leavin planet blue“.

Seite 45: Manuela Kurt präsentiert, auf vergilbtem Lochpapier in Versalien gedruckt, die Zeilen: „TEILEN MACHT TEILEN / MACHT TEILEN MACHT / SPASS SPASS SPASS“. Der Buchstabe „T“ am Anfang des ersten Wortes ist gekippt; Symbol einer kleinen, stürzenden Säule? T: der Buchstabe, mit dem das Verb „teilen“ anfängt, das Nomen „Macht“ endet – oder war es doch das Verb „macht“? Werden wir hier zum Teilen von „Macht“, also finanzieller oder politischer Macht aufgefordert? Oder nur zum Teilen? Und geschieht dies unter dem Zeichen der Lust („Spass“) oder der Bedrohung (die beiden „SS“ als Reminiszenz an die Hitlerdiktatur)? Solche Fragen müssten Leser gegebenfalls selbst entscheiden – der Text bleibt zwiespältig, gibt keinen Hinweis, wie er gemeint ist. Zweideutig, in der Schwebe. Eine Denkbewegung kann sich gerade von hier, vom Zweifel aus, in Bewegung setzen.

Apropos „finazielle Macht“: Blättern wir einmal zu Seite 50, wo sich Gerald Kurdoglu Nitsche religionskritisch des Buchstabens „V“ annimmt, ebenfalls in Versalien (nur hier nicht): „Vergelt’s / Gott! / Vergeld’s / Gott! / Vergold’s / Geld! / Vergäll’s / Gott!“

Günter Vallaster betont bereits zu Anfang seines informativen (und das Buch quasi literaturwissenschaftlich verortenden) Nachworts, dass vor allem der sprachreflexive Ansatz zähle. Dieser verbinde nicht nur die visuelle Poesie mit der experimentellen Literatur, sondern verhindere, konsequent eingehalten, auch ihre ideologische Vereinnahmung: „Sprachreflexion als Gesellschaftsreflexion als Selbstreflexion bildet das Prisma, in dem die Sprache im poetischen Experiment verdichtet, umgelenkt und gebrochen und auf der ganzen Bandbreite des Akustischen und Visuellen spektral aufgefächert wird. Die Ausblendung oder Absolutsetzung bereits eines dieser Prismenwinkel kann aber auch leicht zum Zugeständnis werden, wie es das Beispiel des italienischen Futurismus und seiner Faschismuskompatibilität zeigt.“

Vor letzterem sind die Texte und Arbeiten dieses kurzweiligen Büchleins gefeit. Mögen auch nicht alle Beiträge qualitativ gleichermaßen überzeugen, so fordert doch jeder einzelne auf seine Art dazu auf, sich ins Uneindeutige zu begeben und verschiedene Perspektiven – nicht zuletzt als Erkenntnisimpulse – zuzulassen. Ebenso wie ein ABC, das nicht ganz nach dem gängigen Plan verläuft: Günter Vallaster überließ den Autoren und Autorinnen die Themenwahl. So enthält das Alphabet der Visuellen Poesie nur vierundzwanzig Buchstaben. Für J und R interessierte sich niemand. Hingegen ist mit sieben Beiträgen das A extra stark vertreten – nichts Außergewöhnliches, weiß das kluge Nachwort; auch beim Alphabet gibt es Hierarchien. Wie wohl überall, wo sich Menschen tummeln.

Abschließend also eine Empfehlung. Und im Tross noch ein paar Beispiele, eben angedacht, zur Illustration der Vielfalt (mehr warten im Buch): Liesl Ujvary fotografiert das Zeichen der Wiener U-Bahn-Linie „U 1“ – angebracht an einem Lift –, das ein Aufwärtspfeil begleitet; was rein optisch einer kontroversen Aussage gleichkommt: dem „tiefliegenden“ (im Kehlkopf) Buchstaben „U“ weist ein Pfeil die Richtung nach oben, als wär’s ein zen-buddhistisches Paradox ..

Magdalena Knapp-Menzel kombiniert den Buchstaben „A“ (wie „Alpha“) nicht nur mit zwei Schädeln, sondern auch mit seinem auf den Kopf gestellten Spiegelbild und einem Omega: Vanitasbild für ein Leben in der Sprache? …

Roza Rueb vertauscht auf der letzten Seite im kurzen Text „zelbstverliebt“ nur „s“ mit „z“ – scheinbar eine Winzigkeit, durch die aber ein harmloses Wort wie „sein“ plötzlich mit einem Zischen unterlegt ist, das an unbewusste Ahnungen und Ängste gemahnt, durchaus im Freud’schen Sinn …

Welcher auch mitspielt, wenn Lisa Spalt einen Traum aufzeichnet, in dem die Verwandtschaft zwischen einer antiken Stele und dem „i“ zutage tritt, im Hintergrund spukt ein Phallussymbol …

Und Michael Mastrototaro fotografiert eine V-förmige Flugformation von Vögeln, die daran erinnert, dass Buchstaben auch Zeichen sind, die uns in die Irre führen können …

Das Buch enthält Beiträge von Josef Bauer, Katja Beran, Michael Bloeck, Marietta Böning, Brandstifter, Theo Breuer, Gabriele Buch, Jelena Dabic, Gerhild Ebel, elffriede.interdisziplinäre.aufzeichensysteme, Luc Fierens, Christian Futscher, Ulrich Gabriel, Petra Ganglbauer, Heinz Gappmayr, Harald Gsaller, Thomas Havlik, Wolfgang Helmhart, Ingrid Hoffmann, Christine Huber, Gerhard Jaschke, jopa, Günther Kaip, Christian Katt, Angelika Kaufmann, Ilse Kilic, Magdalena Knapp-Menzel, Anatol Knotek, Franz Konter, Erika Kronabitter, Manuela Kurt, Axel Kutsch, Andreas Leikauf, Kerstin Lichtblau, Michael Mastrototaro, Gerald Kurdoglu Nitsche, Jürgen O. Olbrich, Jörg Piringer, Helga Pregesbauer, Sophie Reyer, Roza Rueb, Nikolaus Scheibner, Valeri Scherstjanoi, Matthias Schönweger, Angelika Schröder, Hannah Sideris, Hartmut Sörgel, Lisa Spalt, Leopold Spoliti, Ingo Springenschmid, Petra Johanna Sturm, Sonja Tollinger, Liesl Ujvary, Günter Vallaster, Fritz Widhalm, Jörg Zemmler, Ottfried Zielke.

Ein Alphabet der Visuellen Poesie.
Mit einem Nachwort von Günter Vallaster.
Wien: edition ch, 2010.
75 Seiten, broschiert.
ISBN 978-3-901015-46-5.

Homepage des Herausgebers mit Informationen über das Buch

Rezension vom 12.09.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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