#Roman

Durchreisende

Dietmar Gnedt

// Rezension von Sabine Schuster

Beim BKA gehen Hinweise des amerikanischen Geheimdienstes auf einen Selbstmordattentäter ein. Man versucht, den drohenden großen Anschlag auf österreichischem Staatsgebiet zu verhindern. Kann man dem Attentäter rechtzeitig auf die Spur kommen?
Reisende, deren Geschichten sich im Laufe der Handlung mehr und mehr eröffnen, steigen ahnungslos in den Fernbus Belgrad-Wien, in dem eine Bombe liegt. Wo, wann und durch wen wird der Sprengstoff gezündet? Lässt sich die drohende Katastrophe verhindern?
Manches in diesem Buch kommt einem bekannt vor, als gäbe es Parallelen zu zeitgeschichtlichen Ereignissen und Schauplätzen, ob in Griechenland, am Balkan, in Wien oder in Rom. (karinaverlag.at)

Hamza, Janis, Farid, Martin, Andrijana, Hubert, Mehmet und Alexandros gehören die Stimmen, die wir in kurzen Kapiteln zu hören bekommen und die uns beim Lesen mehr oder weniger für sich einnehmen. Sie alle warten an einem kalten Wintermorgen in Belgrad auf den Bus nach Wien, mit sehr unterschiedlichen Geschichten im Gepäck. Im Zentrum der Erzählung steht Janis, die NGO-Mitarbeiterin, die sich ein wenig in ihren Schützling Farid verliebt hat und diesen nun mit gefälschtem Pass in ihre Heimat Österreich schmuggeln will. Farid, der Theaterschauspieler aus dem Iran, der von seinem Bruder bei der Religionspolizei angezeigt wurde, nutzt zwar seine Chance, hat aber andere Pläne als Janis. Seine Frau Ziwa ist noch in Teheran und dort in großer Gefahr, er will sie nach Österreich holen, sobald er einen Asylantrag gestellt hat. Noch mehr Angst als Farid hat jedoch Hamza bzw. Mehmet, der junge Gotteskrieger mit den vielen Identitäten, der seinen Koffer nicht aus den Augen lässt. Martin, der krebskranke Priester und Logotherapeut, der am Berg Athos nach Gott gesucht hat, erkennt die Nervosität der jungen Männer sofort und will ihnen helfen. Was soll ihm schon passieren, hat er doch nur noch wenige Monate zu leben. Andrijana, die junge serbische Ärztin, die von einer Karriere am Wiener AKH träumt, trifft am Busbahnhof auf Hubert, den populistischen Politiker aus Österreich mit einer Schwäche für schöne Frauen, der während seines Belgrad-Aufenthaltes von seiner eigenen Partei abmontiert wurde.
Dietmar Gnedts Balkan-Variante des Ibiza-Skandals ist auf den ersten Blick nicht überraschend, aber wie sein Parteisekretär Hubert, der aus Versatzstücken mehrerer FPÖ-Politiker zusammengebaut scheint, von einem Fettnäpfchen ins nächste tappt und schließlich sogar die Bombe im Bus als Chance deutet, um sein persönliches Fiasko in eine Heldenreise zu verwandeln und sich als Retter des christlichen Abendlandes zu inszenieren, das hat bei aller Tragik einigen Unterhaltungswert und ist bis zuletzt äußerst spannend erzählt.
Die letzten vierzig Seiten des Romans bilden eine Art Nachspann, hier kommen die Angehörigen der Reisenden zu Wort, allen voran der Musiker Alexandros, Janis‘ griechischer Ehemann, der seine Frau vor Jahren allein im gemeinsamen Haus in Agios Nikolaos zurückgelassen hat und nun in Wien auf sie wartet, weil er sie zurückgewinnen möchte.
Der Autor vermeidet konsequent eine Schwarz-Weiß-Zeichnung der Figuren, die sich in der explosiven Zusammensetzung der Reisegruppe durchaus anbieten würde. Ausnahmslos alle Protagonist/inn/en haben ihre Qualitäten, aber auch ihre Eitelkeiten, Verletzungen und emotionalen Blindheiten, die sie bei der Suche nach einem erfüllten Leben behindern. Ihre Charaktere erscheinen beim Lesen ebenso realistisch und nachvollziehbar wie das mulitperspektivisch angelegte Psychogramm des kindlich wirkenden Selbstmord-Attentäters.

Durchreisende ist bereits der achte Roman des Schriftstellers, Bibliothekars und Sozialpädagogen Dietmar Gnedt, der im niederösterreichischen Petzenkirchen und in Belgrad lebt. Krieg und Flucht spielen in seinen letzten Büchern eine tragende Rolle, bereits im Roman Balkanfieber (Pustet Verlag 2018), einer Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des zerbrechenden Jugoslawien, benutzte der Autor einen spannenden Handlungsbogen, um politische Aufklärung zu betreiben.

„Was kann Fiktion?“, fragt der Schauspieler Cornelius Obonya, der Gnedt bei seinen Bühnenprojekten unterstützt, in seinem Nachwort zum Roman. – Sie kann von Menschen erzählen, die etwas erlebt haben, und damit andere inspirieren, Neues zu sehen, die eigene Geschichte zu verändern oder alte Geschichten anders zu erzählen. All dies passiert im Roman Durchreisende, der von Anfang an unausweichlich auf eine Katastrophe zusteuert und doch am Ende neue Perspektiven eröffnet.

Ein Bühnenprojekt auf der Textgrundlage des Romans ist bereits in Arbeit, die beteiligten Künstler und ihr Publikum unterstützen damit Menschen auf Fluchtrouten. Alle Spenden gehen an den Verein www.grenzenlosehilfe-kremsmünster.at.

Dietmar Gnedt Durchreisende
Roman.
Mit einem Nachwort von Cornelius Obonya.
Wien: Karina-Verlag, 2021.
196 S.; brosch.
ISBN 978-3-98551-353-6.

Rezension vom 19.04.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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