#Sachbuch

Durch Lesen sich selbst verstehen

Florian Huber

// Rezension von Martin Sexl

Die vorliegende Dissertation Florian Hubers, „der eine Praxis für reflexive Lebensbetrachtung am Chiemsee“ führt, untersucht, welche Rolle ein literarischer Text bei der Frage individueller Identitätsbildung bzw. individueller Reflexion von Identitätsbildung spielen kann und spielt. Mit einem „Kontaktflyer“, der in Buchhandlungen und Bibliotheken auflag, wurden Personen für ein Interview gesucht – mit folgendem Wortlaut: „Welches Buch oder welche Erzählung hat Sie oder Ihr Leben bewegt und vielleicht sogar sinnstiftend berührt? Suche Erwachsene, die im Rahmen eines forschungsspezifischen Interviews über diese Erfahrungen erzählen wollen.“ (S. 102) Die Auswertung der Interviews (2. Teil) und eine theoretische Einbettung derselben (1. Teil) bilden im Wesentlichen den Inhalt des vorliegenden Bandes.

Die Fragestellung des Flyers ist auf individuelle Lektüreerfahrungen zugeschnitten, und so individuell fallen auch die eingebrachten Texte der Gesprächspartner/innen und die Ergebnisse der Interviews aus. Der spezifische Ausgangspunkt des empirischen Settings könnte ein Mitgrund dafür sein, dass der zweite Teil des Buches, der die jeweils individuellen Leseerfahrungen vorstellt, eine plausible und hochinteressante Schilderung der Leistungen literarischer Texte für die Reflexion individueller biographischer Erfahrung und Erinnerung bietet, während der erste Teil des Buches, also die theoretische Einbettung der empirischen Studie, doch ein wenig unstrukturiert und zu heterogen ausfällt.

Huber thematisiert zu Beginn vorbildlich den Forschungsstand und die Problematik qualitativer und quantitativer Daten in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wobei er auch ausführlich und klar die Schwierigkeiten des Schreibens über „Identität“ und über ihre Konstruktion durch Narration sowie die Tatsache der Lückenhaftigkeit erinnerter Lebensgeschichte identifiziert.

Trotz des Hinweises, dass es streng genommen keine individuelle, personale Identität gibt – ist Identität doch immer ein Konstrukt von (notwendigerweise sozialen) Diskursen –, steuert Huber doch auf eine Darstellung einer solche individuellen Identitätsreflexion und Identitätsbildung zu: Huber betont zwar – und dies zu recht –, dass Identität ein diskursives Konstrukt ist, suggeriert jedoch im Widerspruch dazu, dass Identität etwas Individuelles, eine Art (unmögliche!) „Privatsprache“ im Sinne Wittgensteins wäre.

Die Tatsache, dass Bedeutung zwar subjektiv erfahren wird, aber doch immer nur sozial sein kann, bleibt folgerichtig etwas zu stark im Hintergrund. Die Literaturtheorie Norman Hollands und die phänomenologisch-hermeneutisch orientierten Theorien der Rezeptionsästhetik (Wolfgang Iser, Roman Ingarden), die im Wesentlichen in den 60er- und 70er-Jahren ausformuliert wurden und die Huber als Unterstützung ins Feld führt, setzten stark auf eine subjektivistische Position, auf die Einheit von Identitätserfahrung und auf die Einheit literarischer Textbedeutung, die einem unter dem Stichwort „Postmoderne“ gefassten Subjektbegriff – um den es Huber geht – nur mehr mit Vorbehalten entspricht. Das empirische Setting Hubers fördert und fordert geradezu die Individualität von Lektüreerfahrung und ihrer Reflexion: Die Interviews sind erstens bewusst als diadisches System (als Dialog zwischen zwei Personen) angelegt, zweitens haben die Interviewten selbst die Texte „als bewegende Erfahrung“ (S. 216) eingebracht. Die Texte weisen dann auch eine so große Bandbreite auf, dass eine Vergleichbarkeit und Verallgemeinerbarkeit von vorneherein ausgeschlossen scheint – im Detail stellt Huber folgende Texte und Interviews dazu vor: Arbeitsbriefe von John Steinbeck an seine Agentin und an seinen Buchhändler, das Buch „Madame“ von Antoni Libera, „Der kleine Prinz“ (Antoine de Saint-Exupéry), „Sofies Welt“ (Jostein Gaarder), „Salz auf unserer Haut“ (Benoîte Groult), und „Die Lehren des Don Juan“ (Carlos Castaneda).

Die Textauswahl der Gesprächspartner/innen wird leider zu wenig theoretisch eingebettet, d.h. auch die Frage der Differenz zwischen Höhenkammliteratur und Trivialliteratur, dokumentarischen (oder semidokumentarischen) und fiktiven Texten bleibt, auch wenn sie erwähnt wird, theoretisch unterbelichtet. (So wird auch nicht klar, wie die spezifische Form der jeweiligen Texte die Lektüre beeinflusst.)

Insgesamt deckt die literaturtheoretische Einbettung zwar ein großes Spektrum von Ansätzen ab – das reicht von rezeptionstheoretischen bis zu psychoanalytischen Theorien – bleibt aber doch etwas zu undifferenziert. Zudem werden zentrale Begriffe (wie etwa „Textintention“ oder „Lektüreerfahrung“) zu wenig problematisiert, was auch damit zu tun haben mag, dass teilweise veraltete theoretische Texte zur Unterstützung herangezogen werden. Dies wird besonders deutlich, wenn Huber beispielweise schreibt „Heute geht man davon aus, dass die Bedeutung eines Werkes …“ und dann als Referenz einen Text von Nobert Groeben aus dem Jahre 1972 angibt (S. 53).

Was ein wenig verwundert ist die Tatsache, dass jene literaturtheoretischen Ansätze, die sich am explizitesten mit konkreten Leseerfahrungen auseinandergesetzt haben, nicht erwähnt werden: Es ist hier vor allem die Empirische Literaturwissenschaft zu nennen, wie sie von Siegfried J. Schmidt und anderen seit den 1980er-Jahren entwickelt wird. Die Unterscheidung in „offene und geschlossene narrative Formen“ (S. 65ff.) führt Huber zu Recht ins Feld, dass er dabei aber die wichtige Theorie Umberto Ecos (aus dessen Buch „Das offene Kunstwerk“) nicht ins Spiel bringt, mutet seltsam an.

„Der Mann ohne Eigenschaften“ (Musil) mag eine „offene narrative Form“ sein, aber als Kronzeuge taugt Musil vielleicht nicht, hat er doch weder mit den Texten der Interviewten noch mit der aktuellen Gegenwart zu tun. Letzteres fällt deshalb ins Gewicht, weil Huber von der These ausgeht, dass sich in unserer postmodernen Zeit die Frage der Konstruktion von Identität anders stellt als zuvor – auch aus dieser Sicht ist im übrigen der Rekurs auf Literaturtheorien der 60er- und 70er-Jahre nicht ganz nachvollziehbar.

Ja, zugegebenermaßen hatte der Rezensent nach dem ersten Teil den Eindruck, dass hier zwar eine äußerst spannende und relevante Frage- und Problemstellung aufgezogen wird, die theoretische Fundierung aber nicht ganz glückt. Allerdings muss man anfügen, dass der zweite Teil des Buches, der die Fallanalysen vorstellt, diesen Eindruck mehr als rehabilitiert. Hier beweist Huber, dass er mit dieser Dissertation die Forschung über Lektüreerfahrungen einen wesentlichen Schritt weiterzubringen imstande ist, indem er der Grounded Theory folgend zwei Schlüsselkategorien ins Feld führt, mit denen er die heterogenen Erfahrungen der Leser/innen systematisiert: nämlich „literarische Bewältigung“ und „literarische Ambivalenz“. Mit diesen beiden Begriffen kann die paradox anmutende Leistung literarischen Lesens – also eine „ambivalente Bewältigung“ (die nie eindeutig ist), wenn man so will – und ebenso die Grenzen des literarischen Lesens ausgezeichnet erfasst werden, und Huber zeigt in der Analyse der Interviews, dass er das empirische Handwerk versteht.

Im zweiten Teil wird auch klar und ausreichend thematisiert, dass erstens die Interviews über narrative Bewältigungsstrategien ja selbst narrative Bewältigungsstrategien darstellen, dass zweitens literarische Texte immer nur ein Anstoß sein können für solche Strategien, weil nicht-professionelle Textinterpretationen immer stärker an der intentio lectoris als an der intentio operis orientiert bleiben, und dass drittens „die literarische Erfahrung selbst zum belastenden Erzählmoment werden“ kann (S. 155). Damit wirkt Huber allzu überzogenen Erwartungen an das literarische Lesen entgegen.

Die ganze Ambivalenz literarästhetischer Erfahrung verdeutlicht Huber ausgezeichnet dadurch, dass er die Verschiedenheit der Interpretationen herausarbeitet und explizit macht. Und im lebendigen Nachvollzug der stellenweise beeindruckenden (Re-)Konstruktionen erzählter Identität, d.h. in der Schilderung der Interviews und der Interviewten, entwickelt das Buch seine große Stärke. Dass sich Huber am Ende auch kritisch mit der Frage der Bibliotherapie auseinandersetzt, rundet das Buch, das den Rezensenten zu Beginn manchmal stolpern ließ, sehr schön ab. Trotz aller Kritik: Eine interessante, spannende und lesenswerte Sache!

Florian Huber Durch Lesen sich selbst verstehen
Zum Verhältnis von Literatur und Identitätsbildung.
Bielefeld: transcript, 2008.
245 S.; geb.
ISBN 3-89942-827-8.

Rezension vom 22.09.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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