#Roman
#Debüt

Dotterland

Karoline Therese Marth

// Rezension von Beatrice Simonsen

Eine ganze Reihe österreichischer Autor:innen widmet sich in autofiktionalen Romanen dem Thema des Coming-of-Age ihrer Held:innen. So auch die in Wien am Institut für Sprachkunst studierende Karoline Therese Marth in ihrem Debüt.

In Dotterland erzählt Kathlen von 0 bis 18 von sich, wobei die Kapitel nicht nur mit der Anzahl an gelebten Jahren überschrieben sind, sondern auch mit den Postleitzahlen der Wiener Bezirke, in denen die Ich-Erzählerin groß wird. Diese ändern sich besonders in ihrer frühen Kindheit in kurzer Abfolge. Erzählt wird aus dem engen Blickwinkel des Kindes von Mama und Papa, dem Bruder, Schule, den Freund:innen und Familienmitgliedern – einem fragilen Gefüge, in dem Kathlen sich zu verorten sucht. Die emotionale Bindung zur Mutter wirkt unerfüllt, der Kontakt zum Bruder ist lose. Es kommt zur Scheidung der Eltern, der Vater taucht ab und entschlägt sich der Unterhaltszahlungen – soweit kein Einzelfall. Finanziell ändert sich wenig, als ein neuer Partner samt Sohn die Patchworkfamilie ergänzt, auch emotional bringt es keinen Zuwachs an Sicherheit.

Kathlen beschreibt ihr Leben detailreich, ungeschönt und mit großer Offenheit. Wie in einem Versuchslabor werden uns punktuell verschiedene Stadien ihrer kindlichen Entwicklung dargelegt: die gefährlichen Spiele auf der Straße, die enge Bindung an ihre Freundin Lena, das widersprüchliche Verhalten der Mutter. Vieles bleibt für das Kind rätselhaft, Erklärungen gibt es nicht. Bald nähert es sich der Pubertät und die Gewichtungen verschieben sich. Das überwältigende Angebot der digitalen Spiele wird zur perfekten Ablenkung von den realen Problemen für die Heranwachsende.

Jene Generation, die in den 2000ern aufwuchs, ist die erste, an der sich die Auswirkungen des Gamings zeigen. Nicht umsonst landete der ebenfalls in den Nullerjahren aufgewachsene Tonio Schachinger mit seinem gewieften Roman Echtzeitalter einen großen Erfolg. Während er seine Coming-of-Age Erzählung in einer Wiener Eliteschule ansiedelt, nimmt uns Dotterland mit ins Milieu der einkommensschwachen Unterschicht. Was Schachingers Held Till für seinen Aufstieg nützt, löst bei Marths Ich-Erzählerin Kathlen eine Abwärtsspirale aus, die bald bodenlos erscheint. Ihre ohnehin unsichere reale Welt wird mit dem Lärm und den Bildern der permanent präsenten virtuellen Parallelwelt so lange zugeschüttet, bis sie sich selbst nicht mehr spürt.

Karoline Therese Marth bleibt beim Fokus auf das enge soziale Netz ihrer Protagonistin, hat immer die Nähe und Distanz zwischen den Figuren im Auge – fast wie in dem von Kathlen bevorzugten Computerspiel Die Sims. Der Unterschied ist allerdings eminent: Das, was sie im Spiel bestimmen kann, gelingt in der Realität nicht. Bei Sims schaltet Kathlen einfach den freien Willen ihrer Figuren aus, damit sie diese fest im Griff hat. In der Realität kann sie das Verhalten ihrer Mitspieler:innen nicht greifen. Ihre Unsicherheit nimmt neue Dimensionen an und es bleibt auch nicht bei den „normalen“ jugendlichen Problemen, wie sich „ungeschickt und hässlich“ zu fühlen.

Kathlen drängt nach vorne, sucht immer neue Erfahrungen – nun vor allem in der Sexualität. Da sind Alex, Reva, Mischa und Mona, Robert – wer sind die Verführer und wer die Verführten? Was ist Liebe und was ist Sex? Die Welt ist voll von nicht einordenbaren Eindrücken, so anziehend wie abstoßend. Die Schule ist inhaltslos und längst nur mehr dazu da, ihr neue Begegnungen zu liefern. „Ich weiß nicht, was mir fehlt, aber es fehlt etwas.“ (Seite 106)

Immer tiefer versinkt sie in ein Verwirrspiel der Lust mit beiden Geschlechtern, in dem die Rollen oft nicht klar verteilt sind. Immer weiter führt uns die Ich-Erzählerin an der Hand in ihre Welt, legt den Finger einmal in diese und dann in die andere Wunde. Doch selbst als ihre Probleme offensichtlich werden – sie kratzt, ritzt und schneidet sich, leidet an Essstörungen, nimmt Tabletten und Drogen, macht die Nächte durch – reagieren die Erwachsenen nicht auf sie. Die Erwachsenen haben kaum mehr als Fertigpizza anzubieten oder machen ihr den Platz auf der Couch vorm Fernseher streitig.

Dotterland, das ist das Gelbe vom Ei, das Kathlen sich als Kind so dringend wünschte, ein Land, in dem sie sich geborgen fühlen will. Was sie dagegen erlebt, fühlt sich hart und einsam an. „Ich bin fünfzehn, im Supermarkt bin ich sechzehn, in der Trafik achtzehn, auf Partys einundzwanzig, in Roberts Armen bin ich ganz klein.“ (Seite 87) „Du bist porno“ (Seite 97), sagt er zu ihr.

Überraschend wendet sich am Ende das Blatt zum Guten und Kathlen besteht die Matura mit Auszeichnung. Leider wird dieser Entwicklung erzählerisch zu wenig Rechnung getragen. Ein Hinweis, was die Motivation am Schulbesuch letzten Endes wach hielt, wäre (für Eltern, Lehrer, Jugendliche?) aufschlussreich gewesen. Insgesamt aber ist die Botschaft dieses literarischen Debüts sehr klar: Ohne Verantwortung zu übernehmen, kann das Leben nicht gelingen. Nur, wie das geht, konnte sie von den Erwachsenen nicht lernen. Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner, heißt das Motto. Die ungeschönte Direktheit, mit der Kathlen erzählt, und ihr drängender Ruf nach Fürsorge und Zuneigung hallen noch lange nach.

 

Homepage von Beatrice Simonsen

Karoline Therese Marth Dotterland
Roman.
Graz: Droschl 2023.
120 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag.
ISBN: 9783990591390.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin und einer Leseprobe

Rezension vom 11.02.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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